Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Freitag, 27. März 2009

Zwei Mal zeitgleich Albrecht von Brandenburg-Ansbach


Mitte Juni des Jahres 1516 wird in der Canzley des Hochmeisters zu Königsberg ein Brief an einen der mächtigsten Männer im Deutschen Reich geschrieben, an Albrecht von Brandenburg-Ansbach, seit 1513 Erzbischof von Magdeburg und Administrator des Bistums Halberstadt, seit 1514 Erzbischof und regierender Churfürst von Mainz, 1518 geht auch der Kardinalshut an ihn. Gleichzeitig stehen ihm die Primaswürde und die Rechte eines Erzkanzlers im Reich zu. Albrecht von Brandenburg ist nach dem Kaiser der bedeutendste Mann im Reich! Durch die Ämterhäufung vereinigt sich in seiner Person geistliche und weltliche Macht in bisher nie gekanntem Umfang. Wenn man annähme, daß heute eine Person Ministerpräsident gleich mehrerer Bundesländer, außerdem Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und Innenminister der Bundesregierung in Verbindung mit den Einkünften heutiger Spitzenmanager wäre, bekäme man vielleicht annähernd eine Vorstellung von der Bedeutung der Machtposition des Erzbischofs Albrecht.

Der Absender des Schreibens an Erzbischof Albrecht trägt den gleichen Vor- und “Familien”-Namen: er heißt ebenfalls Albrecht von Brandenburg-Ansbach und steht ebenfalls einem geistlichen Fürstentum vor, dem Ordensland Preussen. Der gewählte Hochmeister “regiert” auf Lebenszeit das nicht zum Reichsgebiet gehörende Ordensland wie ein souveräner Fürst. Er hat ursprünglich keinen Kaiser oder anderen Fürsten über sich gehabt, nur den Papst in Rom als geistliches Oberhaupt. Die Hochmeister sind erst nach dem unseligen Bürgerkrieg im Ordensland Preussen 1453-1466 dem polnischen König lehensuntertan geworden und haben damit ihre alleinige fürstliche Souveränität über das seitdem fast um die Hälfte verkleinerte Ordensland eingebüßt.

Beide, Schreiber und Empfänger, tragen nicht nur den gleichen Namen, sondern sind auch miteinander nah verwandt:
- Erzbischof Albrecht ist der 6 Jahre jüngere Bruder des brandenburgischen Churfürsten Joachim I. Nestor in Berlin. Er kam 1490 im Schloß zu Cölln an der Spree zur Welt.
- Hochmeister Albrecht entstammt dem fränkischen Zweig des Hauses Hohenzollern und wurde in Ansbach im gleichen Jahr (1490) geboren.
Beide Albrechts sind Cousins und haben einen gemeinsamen Großvater: Albrecht III. Achilles (1414-1486), Churfürst in Berlin und Markgraf von Brandenburg-Ansbach. Die Väter beider Albrechts sind die Brüder:
- Johann Cicero (1486-99), Churfürst von Brandenburg in Berlin residierend und
- Friedrich II. (1460-1536), Marggraf in Ansbach und Kulmbach.
Friedrich II. hat mit seiner Gemahlin Sophia von Polen (Tochter König Kasimirs von Polen und der Elisabeth von Habsburg) 17 Kinder, versucht nach dem Tod seines Bruders 1499 -erfolglos- Regentschaftsansprüche auf den Churfürstenthron in Berlin durchzusetzen und wird 1515 wegen seines über die Maßen aufwendigen Lebensstils von zweien seiner älteren Söhne in der fränkischen Plassenburg ab- und gefangengesetzt. Zu der Zeit ist das 8. Kind aus jener Linie, Albrecht, bereits seit 4 Jahren Hochmeister in Königsberg.

Aus welchem Anlass läßt nun der preußische Ordenshochmeister Albrecht im Frühsommer der Jahres 1516 dem Vetter gleichen Namens schreiben? Der Anlass ist einer unserer Urahnen: Heinrich von Schwichell (ca. 1480-1545), der neue Geschütz- und Glockengießer des Hochmeisters Albrecht! In einem über 20 Zentimeter dicken, mit geprägtem Leder bezogenen Folianten sind alle ausgehenden Schreiben der Königsberger Canzley des Jahres 1516 in Abschriften verzeichnet. Der Foliant steht heute im Berliner Staatsarchiv. Auf Seite 32 des dicken handgeschriebenen Buches finde ich diesen Text:
Am Freyttag nach Barnab[a]s (Barnabas = 11.06.) ist dem Bisthoff zu Maigdburg geschrb /
... uns bericht unser Buxen Meister und gießer, lieber und getreuer Hainrich von Schwichell, wie E / L / [Euer Liebden] ettliche glocken [,] daruber ein große gefallenn soll [,] In willens zugiessen lassenn, wo dem alßo ist an euer lieb unßer freundlich bethe, dieselbige wolle nymanns anderst dan[n] unßern Büxsengießer solch arbait zugießen vergonnen dann er von vorhofft und hatt sich auch dermasse mich glocken und büxsen giessen [,] woll und genug samlich bey uns beweist [,] das I[h]me gott das glück darzu auch verleyhen werdt [,] E / L / wolle uns zu diesem Wilffarn sendt wir In vertrawen er werdt euer lieb auch beheglich dermassen erstheunen, das wolle wir uns diesel(b) E / L / freuntlich verdienen Bitte Hieruff E / L / anthwort doch(?) uns

Im Herbst 1514 ist Heinrich von Schwichell von Livland aus den Diensten des Landmeisters des baltischen Ordensgebiets nach Königsberg empfohlen worden und hat für seinen neuen Dienstherrn in Preussen erfolgreich erste Glocken gegossen (...woll und genugsamlich bey uns beweist...er werdt euer lieb auch beheglich dermassen erstheunen). Hochmeister Albrecht nimmt ihn 1515 in Dienst auf Lebenszeit: man könnte sagen, er ist nun verbeamtet. 1516 gibt es offenbar keine aktuellen Gießaufträge im Ordensland Preussen. So soll Heinrich ins Erzbistum Magdeburg “ausgeliehen” werden. Vielleicht erhofft sich Heinrich auch einen weiteren Karrieresprung bei einem so einflußreichen Auftraggeber.

Am 10. Juli 1516 läßt Erzbischof Albrecht nach Königsberg antworten: Unser fruntliche dinnste und was wir liebs und guts vermögen alzeit, Erwirdiger und Hochgeborner Fürst fruntlicher lieber vetter / Euer Liebden schreiben von wegen des Buchssen giessers Heinrichs von Sweichel haben wir sampt euer liebd[en] bitt, bekomen, und wissen von keynen glocken die wir zu giessen lassen bedacht, noch zu haben bedurffen, hirinnt isd kein arbeit der wegen bey uns verhanden, Es ist aber ettwann unser Capittel zu Magdeburg wol willens gewest ein groß glocken zugiessen lassen, ob se darzu aber noch gesynnet oder nicht wissen wir nicht, wie das nu einen furdgang bey ynen haben wurde, Wollenn wir e.l. zu fruntschafft und gefallen die diesser furbitt mitt dem besten eindrucke sein, dann e.l. fruntliche dinste und willefarung zuerzeigen, sind wir alzeitt zuthun geneigt[.] Dan zu Halle uff Sanct Moritzburg donnstags nach Kiliani anno -XVI
Albrecht von anspach Ertzbischoff zu Magdeburg und Meintz Primas unnd Churfurst, Administrator des Stiffts zu Halberstadt, Marggrawe zu Brandenburg zu Stettin Pomern u Herzog Burggwe zu Norembg und furst zu Rugenn

Der Gießer Heinrich von Schwichel bleibt vorerst weiter in Preussen. In diesem Schreiben deutet sich das erste Mal die oberdeutsche Lautverschiebung im eigentlich niederdeutschen Namen Schwichel an: in Magdeburg schreibt man “Sweichel” (siehe auch die Geschichte über den Glockengießer Heinrich von Schwichel: http://genealogischenotizen.blogspot.de/2010/12/glockengieer-heinrich-von-schwichel-ca.html).

Nehmen wir diese Bezüge zum Anlass, uns mit der Person des Erzbischofs Albrecht und den bis in unsere heutige Zeit hineinwirkenden Folgen seines Schaffens zu zuzuwenden:
Albrecht strebt bereits in seiner Jugend nach hohem Ansehen und pflegt einen auf äußere Prachtentfaltung und Pomp angelegten Lebensstil, der seine Appanage bei weitem übersteigt. Das führt zu Auseinandersetzungen mit seinem Bruder, dem regierenden Churfürsten von Brandenburg. Albrechts anstehender beeindruckender Ämtererwerb kostet erneut viel Geld, was die Kassen des Brandenburgischen Churfürstentums überfordert. Der Papst in Rom läßt sich jeden von ihm bewilligten Posten gut bezahlen. Die eigentlich unzulässige Ämterhäufung, das eigentlich noch nicht erreichte notwendige Lebensalter für diese hohen Positionen erfordert jeweils einen besonderen Dispens (Ausnahmeregelung), der die von Rom geforderte Summe weiter in die Höhe treibt. Der Papst ziert sich zunächst ein bißchen, genehmigt 1514 aber doch. Die Fugger organisieren die fehlenden Summen. Damit Rom zu seinem Geld kommt, muß Albrecht den Ablasshandel in seinen neuen Erzbistümern erlauben. Der Ablasshandel, der den Gläubigen die Sündenlast nehmen soll, wird von dem Medici-Papst Leo X. zur Finanzierung des neuen Petersdoms gebraucht. Es ist damals üblich, daß der jeweilige Bischof 50 % der Einnahmen aus dem Ablasshandel in seinem Bistum erhält und die anderen 50 % direkt nach Rom fließen. Albrecht hat jedoch gar nichts davon, denn die ihm zustehenden 50% werden sofort von den Vertretern der Fugger eingestrichen zur Tilgung des Kredits (es wird eine Summe von 38.000 Gulden genannt - das Jahresgehalt eines Professors beträgt damals etwa 100 Gulden).

Der Rest der Geschichte ist in groben Zügen allgemein bekannt: Johann Tetzel waltet seines Amtes im Erzbistum Magdeburg, schüchtert das Volk durch Höllen-Predigten ein, um reichlich Ablass gegen bare Münze auszuteilen. Dem Theologie-Professor und Augustinermönch Luther in Wittenberg kocht darob die Galle über und er formuliert 1517 seine bekannten Thesen.


Weniger bekannt ist das Verhalten Erzbischof Albrechts in dieser Geschichte: fast möchte man annehmen, er müsse alles daran gesetzt haben, den unbequemen Luther zum Schweigen zu bringen. Das Gegenteil ist der Fall. Albrecht sonnt sich gern in dem Ansehen, ein gebildeter Humanist und friedliebender Christ zu sein, der mit allen namhaften Geistern seiner Zeit in Kontakt steht, die Wissenschaften fördert und die Künste liebt. Er gibt sich den Anschein, reformwillig zu sein. Allerdings möchte er auch bei der Kurie in Rom einen guten Eindruck machen. So laviert er lange Zeit mit Worten: besänftigt Luther, indem er andeutet, daß seine Thesen gar nicht so unvernünftig sind, bremst Tetzel, wenn er allzu heftig vorgeht, beschwichtigt Rom, wenn von dort rigide Maßnahmen gegen die ketzerischen Protestanten drohen. Luther schimpft weiter auf die römische Kirche und polemisiert erbarmungslos, läßt aber Erzbischof Albrecht größtenteils außen vor, weil er lange die Hoffnung hegt, ihn auf seine Seite ziehen zu können (oder weil er von fürstlicher Seite aus politischen Gründen zur Mäßigung angehalten wird).

Durch eine atemberaubende Prachtentfaltung in seiner Residenz Halle versucht der Renaissance-Fürst Albrecht der Ausbreitung der Reformation etwas entgegenzusetzen - oder will er nur sein Ansehen als Primas germaniae zementieren? Die Werkstatt von Lucas Cranach in Wittenberg fertigt von 1520-25 einen Bilderzyklus mit über 140 Werken allein für Albrechts Stiftskirche und zukünftige Grablege in Halle. Darüber hinaus wird diese repräsentative Kirche mit kostbarstem Meßgerät, Reliquien,Tapisserien und geistlichen Gewändern ausgestattet. Zu jedem Anlass, zu jedem hohen Kirchenfest wird umdekoriert, werden die jeweiligen Bildnisflügel der Altäre aufgeklappt (es gab 16! Altäre), um die weihevollen Andachten in beeindruckendster Weise zu zelebrieren. Die edelsten und teuersten Stoffe der damals bekannten Welt werden importiert, dann von einheimischen Kunsthandwerkern mit Perlen und Edelsteinen bestickt, um die hohen kirchlichen Würdenträger oder Heiligenbildnisse für repräsentative Messen einzukleiden oder als Baldachine, Altardecken und Wandbehängen das Auge zu ergötzen. Die Sammlung der Reliquien sämtlicher Heiligen übertrifft alles jemals dagewesene. Die Moritzburg in Halle wird zur repräsentativen Residenz ausgebaut. Erzbischof Albrecht reizt seine Kreditlinie ohne jede Rücksicht immer weiter aus. Die besten Goldschmiede fertigen ständig neue Reliquiare, Monstranzen, Vortragekreuze, Krummstäbe, Hostienbehälter, Heiligenbildnisse und ... und...und. Auf seinen eigenen Portraits schaut Erzbischof Albrecht oft ein wenig mißmutig adipös mit 15 - 20 edelsteinfunkelnden Ringen an seinen Fingern. Oder er läßt sich als Heiligen malen (z.B. hl.Martin siehe oben). Man sagt ihm Mätressen nach und Kunsthistoriker belegen heute, welche der weiblichen Heiligenbildnisse eigentlich seine Kurtisanen darstellen. Er hat keine geistig-geistlichen, aber auch keine physisch-leiblichen Genüsse ausgelassen. Albrechts Wesen wird nicht von asketischen Sehnsüchten geplagt. Ungehemmte Prunksucht, Prachtentfaltung und luxuriöse Selbstdarstellung bis zum Äußersten, ein fast manisch zu nennender Wettstreit um die kostbarsten Dinge der damals bekannten Welt scheint ihn tragischerweise anzutreiben - und treibt ihn mitsamt der allmächtigen römisch-katholischen Kirche an den Rand des Untergangs.


Erzbischof Albrecht ist zwar durch seine Titel der zweitmächtigste Mann im Reich, scheint aber nicht über die erforderliche Kraft verfügt zu haben, jene Zeit des Umbruchs entscheidend zu prägen. Er wollte es allen recht machen, von allen geachtet werden. Als Humanist scheut er sich, Luther der römischen Kirche ans Messer zu liefern und hat dem Reformator durch seinen Einfluß das Leben gerettet (nachweislich ein Mal, möglicherweise sogar öfter), ermöglicht aber dadurch die Kirchenspaltung. Zeitweilig denkt er daran, es seinem Vetter in Preussen gleich zu tun und sein Hoheitsgebiet in ein weltliches Fürstentum umzuwandeln. Er schreckt jedoch vor den politischen Gefahren zurück. Als immer mehr Landesfürsten sich auf Luthers Seite schlagen und vom römischen Glauben abfallen, gerät seine Machtposition ins Wanken und er ergreift zaudernd Gegenmaßnahmen (Protestanten: Schmalkaldenscher Bund; Albrecht: Hallescher Bund). Tragischerweise kommen immer mehr Zweifel an seiner Kreditwürdigkeit auf, Albrecht muß Kunstwerke außerordentlichen Ranges schmachvoll verpfänden oder gar wegen des profanen Edelmetallwertes einschmelzen lassen. Er verliert die Stadt Magdeburg an die Protestanten. Er läßt seinem Hoffinancier in höchster finanzieller Bedrängnis den Prozess machen und unter Einziehung seines Vermögens zum Tode verurteilen, was der enttäuschte Luther endlich zum Anlass nimmt, eine seiner übelsten Polemiken gegen Albrecht zu veröffentlichen. Als 1539-40 Albrechts Neffe, der neue regierende Churfürst in Brandenburg Joachim II. Hektor zu den Protestanten übertritt und der gut katholische Churfürst Georg von Sachsen als weltlicher Herrscher über Albrechts Residenzstadt Halle stirbt, kann sich Albrecht nicht mehr in Halle halten. Die Kaufmannsstadt tendiert schon länger zum Glauben Luthers, Albrecht hat bisher jegliche Versuche einer Konversion unterdrücken können. 1541 muß Albrecht sein geliebtes Halle verlassen und bricht in sein zweites Erzbistum Mainz auf, um in Aschaffenburg Residenz zu nehmen - im Gepäck alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Die prunkvolle Stiftskirche in Halle, die eigentlich einmal Albrechts Startrampe in höchste Ränge himmlischer Gefilde werden sollte, ist ausgeräumt, die Bibliothek mit vielen kostbaren Bänden eingepackt, die Heiligenreliquien müssen auf die Reise gehen, die Moritzburg steht leer. Alle Pracht und Herrlichkeit -soweit noch nicht verkauft oder verpfändet- verschwindet nach Aschaffenburg und Mainz. In ständigen Etatstreitereien mit seinem dortigen Domcapitel stirbt Erzbischof Albrecht 1545 verbittert und enttäuscht, wird im Mainzer Dom bestattet und hinterläßt einen astronomisch hohen Schuldenberg. Das Domcapitel in Mainz wird viele von Albrechts Kunstschätzen und Reliquien verkaufen müssen, um die desolaten Finanzen in eine halbwegs handhabbare Ordnung zu bringen. Knapp 100 Jahre später wird der 30-jährige Krieg die verbliebenen Schätze weiter dezimieren.
 
Hier reizt die Frage zu kühnen historischen Spekulationen: wäre es auch zu diesem schrecklichen Krieg gekommen, wenn es Albrecht nicht in diese hohen Ämter geschafft hätte? Oder wenn Albrecht entschiedener gegen Luther vorgegangen wäre? Oder was wäre weiter geschehen, wenn Albrecht so wie sein Vetter seine Territorien in ein weltliches Fürstentum umgewandelt hätte und zu den Protestanten übergetreten wäre?
.
Was wird aus dem Vetter gleichen Namens im Ordensland Preussen? Hochmeister Albrecht steht zwar schon seit 1511 dem Orden vor, hat aber den erforderlichen Lehenseid gegenüber seinem Onkel König Sigismund I. von Polen 1516 noch nicht geleistet. Mit kühnen Ausreden kann er alle angesetzten Termine zur Reise nach Krakau immer wieder verschieben. 1519-20 spitzt sich die Lage zu. Albrecht hat insgeheim nach Bündnispartnern Ausschau gehalten: bei Verwandten im Deutschen Reich, in Skandinavien und sogar Moskau sucht er -nicht sonderlich erfolgreich- Unterstützung für einen anstehenden Waffengang, um die polnische Lehensherrschaft über den Ordensstaat endlich wieder abzuschütteln. Sigismund läßt Truppen aufmarschieren. Es kommt zu vielen erschöpfenden Scharmützeln, die letztlich für beide Teile nur hohe Verluste gebracht und die Machtfrage nicht entschieden haben.

Man vereinbart einen vorläufigen Frieden auf 4 Jahre zwischen Preußen und Polen. In diesen Jahren reist der Hochmeister viel umher, um für seine Angelegenheit zu werben. Man interessiert sich jedoch nicht sonderlich für das ferne Preußen. Luthers Ideen sorgen für Unruhe im Reich. Der Hochmeister trifft sich heimlich mit ihm. Die Verhandlungen mit dem polnischen König in Krakau nehmen eine überraschende Wendung: 1525 kommt es zu einem kühnen Staatsstreich. Der Hochmeister macht aus dem ihm unterstellten Ordensland ein erbliches Herzogtum. Nun endlich leistet er seinem Onkel in Polen den Lehenseid. Der König läßt offiziell aus Krakau verlauten, der Orden habe sein Recht auf das Land verwirkt, da dieser es seit 1511 nicht für nötig gehalten habe, das Lehen zu erneuern. So habe er 1525 von seinem Recht auf Neuvergabe gebraucht gemacht. Preußen wird protestantisch, auch um sich vom Orden und vom Papst als ehemaligen obersten Herrn zu distanzieren.


Herzog Albrecht heiratet 1526 die dänische Königstochter Dorothea. Aus der männerdominierten Ordensresidenz Königsberg wird nun ein Fürstenhof mit Hofdamen und Frauenzimmern, an dem dynastisches Kalkül Einzug hält, aber auch repräsentative Selbstdarstellung durch Kunst, Kultur und Wissenschaft. Die Reformation kann sich hier ungehindert entfalten und strahlt aus in die Nachbarlande. Kluge Köpfe werden gefördert, Schulen und Universität gegründet, Druckereien für reformatorische Schriften etabliert. Der Orden erwirkt zwar gegen Usurpator Albrecht 1531 eine Reichsacht, die aber aufgrund der innenpolitischen Instabilitäten durch Luther und die ihm zugewandten Reichsfürsten wirkunglos und folgenlos bleibt. Albrecht ist unangefochten Herzog in seinem Reich Preussen.

Mit den Jahren bildet sich am Herzogshof eine machtbewußte Elite heran, die sich in einflußreichen Hof- und Verwaltungsämtern etablieren will. Anders als zu Ordenszeiten, als jeder verstorbene Komtur einfach durch einen neuen Kandidaten ersetzt wurde, wird nun um erbliche Privilegien gerungen. Herzog Albrechts letzte Regierungsjahre zermürben durch kirchliche und politische Zankereien. Evangelisch-protestantische Richtungskämpfe zwischen dem von Albrecht favorisierten Osiander und dem des Landes verwiesenen Mörlin erschüttern den Staat: der größte Teil der Geistlichkeit, auf das Volk gestützt, hält es mit Mörlin. Die Städte und der Adel ergreifen ebenfalls die Partei Mörlins, weil die einen so die Anerkennung ihrer ehemaligen Vorrechte, die anderen dagegen die Beschränkung der herzoglichen Gewalt auf das Verhältnis des ehemaligen Hochmeisters zu seinem Orden zu erreichen hoffen. Fast das ganze Land steht dem Fürsten feindselig gegenüber, dem man vorwirft, die Ausländer zu sehr zu begünstigen. In der Tat kann der kroatischen Abenteurer und Alchimist Skalich vorübergehend zu ungeahntem Einfluß bei Hofe kommen, bevor er überstürzt bei Nacht und Nebel mit unterschlagenen Werten die Flucht ergreift. Die Stände suchen Hilfe in Polen. Der polnische König und Lehensherr über Preussen schickt 1566 eine Kommission nach Königsberg, um die Ordnung wieder herzustellen. Des Herzogs Beichtvater Johann Funck, ein Schwiegersohn Osianders, und zwei Verbündete werden als Hochverräter zum Tod verurteilt, der von Albrecht verabscheute Mörlin zurückberufen und zum Bischof von Samland ernannt. Neue Räte werden dem Herzog von der polnischen Kommission im Zusammenwirken mit den Ständen Preussens aufgenötigt. Albrecht ist praktisch entmachtet. Sein Testament -in dem er unter anderem den mit seiner ältesten Tochter Anna Sophia verheirateten Schwiegersohn Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg zum Nachfolger in Preußen benennt- wird für wirkungslos erklärt. Er stirbt am 20. März 1568 auf Schloß Tapiau zutiefst verzweifelt im Alter von 78 Jahren, 16 Stunden nach seinem Tod stirbt seine zweite Gattin Anna Maria von Braunschweig. Der einzige lebende Sohn Albrecht Friedrich -nun ein Waisenkind- ist noch nicht 14 Jahre alt. Die Regierung des Herzogstums bleibt über viele Jahre in den Händen der Räte, die das Land und dessen Einkünfte in ihrem Sinne verwalten (siehe auch die Geschichte über Asmus Behring, die in den folgenden Jahrzehnten spielt: http://genealogischenotizen.blogspot.de/2009/01/asmus-behringk-ca-1530-84-ein-ostpreue.html). Auch hier mag man vielleicht spekulieren, was wäre gewesen... wenn? Was wäre gewesen, wenn man Herzog Albrechts Testament vollzogen hätte? Preussen und Mecklenburg entwickeln sich zu einer nordischen Großmacht, dynastisch eng verbunden mit Skandinavien?

Fest steht: beide Albrechts müssen zum Ende ihres Lebens herbe Enttäuschungen und das Scheitern ihrer groß angelegten Lebensträume hinnehmen.

Labels: , , , , , , , , ,

Sonntag, 22. März 2009

Ortsfamilienbücher, bequeme Quellen zur Familienforschung in Ostpreussen

Der eine oder andere Leser wundert sich vielleicht, wie es heute noch gelingen kann, Familiengeschichte in Ostpreussen so tiefgreifend und umfassend zu erforschen. Ich hätte vor Jahren auch nicht gedacht, daß es noch so viel Quellenmaterial für diese Region gibt. Als erstes gehört immer auch eine Portion Glück dazu. Die ersten Schritte führen zu den Fragen: gibt es noch Kirchenbücher für die betreffende Region, findet man noch in der eigenen Familie ausreichend Daten, um an die Kirchenbuchdaten anschließen zu können, die oftmals im Jahr 1874, dem Beginn der standesamtlichen Registrierung in Preussen, enden.

Voraussetzung für einen Einstieg in die Kirchenbücher und später dann in die Aktenrecherche weiterführender Archive ist eine gute Kenntnis der alten Schriften, ein gutes Lesevermögen. Aber man kann es auch einfacher haben. Einige Forscher haben Kirchenbücher vollständig abgeschrieben, bereits nach Familiennamen sortiert und als sogenannte Ortsfamilienbücher (OFB) veröffentlicht.

Für einige meiner Forschungsregionen habe ich das Glück, auf solche Ortsfamilienbücher zurückgreifen zu können. Nur wer sich selbst einmal viele Jahrhunderte durch Kirchenbücher gekämpft hat, kann ermessen, was für eine Arbeitserleichterung das bedeutet. Andrerseits kann sich wohl kaum jemand vorstellen, der sich nicht selbst durch mitunter nur schwer zu entziffernde Schriften gequält hat, was es heißt, ein Jahrhunderte umfassendes Kirchenbuch abzuschreiben und die vielen Schreibvarianten der Familiennamen, die vielen oft mehrdeutigen Eintragungen, in eine verläßliche Ordnung und Beziehung zu setzen.

Wer sich einen Überblick verschaffen möchte, für welche Regionen bereits solche Ortsfamilienbücher vorliegen, schaue bitte unter diesem Link:
www.plew.info/ofb_allgemein.htm

In Kürze erscheint von Patrick Plew das OFB Heiligenwalde, welches wir mit Spannung erwarten. Martin, mein Bruder, hat das KB Heiligenwalde bereits vor einigen Jahren durchgesucht, um unsere SCHWEICHLER-Genealogie in Kalkeim und umliegenden Orten zu ergründen. Aber mit den Jahren sind viele neue Fragen aufgetaucht, haben sich viele neue lose Enden ergeben, die einen erneuten Einstieg in das KB erfordern würden - mal ganz abgesehen von den alten Fragen, die durch die erste Recherche unbeantwortet blieben. Wir wissen, daß unser Urahn Heinrich von SCHWICHEL das Gut in Kalkeim im Kirchspiel Heiligenwalde 1542 erwarb und wir wissen, daß es fast 300 Jahre im Besitz der Familie blieb. Es gibt viele Filiationen in umliegende Güter und Orte, von denen wir zwar Kenntnis haben, aber oft nicht genau wissen, wie sie zusammengehören, weil die ersten Jahre der Kirchenbuchaufzeichnungen häufig so uneindeutig sind und sichere Zuordnungen erschweren.

Außerdem kann eine Recherche in den Verfilmungen der Mormonen oft unerfreuliche Überraschungen mit sich bringen: eventuell sind rechte und linke Kirchenbuchseite getrennt auf verschiedenen Filmen aufgenommen und es gibt keine Möglichkeit, an zwei Plätzen gleichzeitig mit beiden Filmen zu arbeiten. Das heißt, man findet auf der linken Seite einen Geburtseintrag mit Namen zum Vater und der Mutter und das Taufdatum und rechts stehen nur die Paten und das Geburtsdatum. Oder der Name des Vaters ist links, der Name der Mutter nur rechts zu finden und die restlichen Angaben sind nach Gutdünken des Schreibers auf die Seiten verteilt. Wenn da der Pfarrer die Zeilen etwas schräg nach rechts unten abfallen läßt oder sonstwie nicht ganz geradeaus schreibt, sind Fehler in der Zuordnung fast kaum zu vermeiden.

All diese Schwierigkeiten und Fehlerquellen werden bei der Erschließung der Kirchenbücher eines Kirchspiels zu einem OFB von Profis bewältigt und gelöst. Als Forscher kann man nun bequem "die Ernte einfahren", muß sich nicht mit gräßlichen, kaum lesbaren Schriftstilen, mit Tintenflecken über wichtigen Namen, mit fast zur Unkenntlichkeit verblichenen Schriften, durch Wasserflecke verlaufene Tinte oder falsch belichteten Filmen herumschlagen. Üblicherweise heißt es sonst immer: erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Mit einem OFB fällt der erste Teil fort, es bleibt das reine Vergnügen. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, die Ausgabe für das OFB lohnt sich immer.

Siehe auch: http://genealogischenotizen.blogspot.com/2011/12/die-konigsberger-kirchenbuchkartei-eine.html
Weitere OFBs: http://www.online-ofb.de/ 

Labels: , ,

Sonntag, 1. März 2009

Der Streit um Steinbach

Eine in Deutschland bis vor einigen Jahren nur „Insidern“ bekannte politische Randfigur sorgt in den letzten Wochen erneut für außenpolitische Schlagzeilen: Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). Soll sie nun - oder soll sie nicht - in den Stiftungsrat des geplanten Zentrums gegen Vertreibungen berufen werden? Derzeit sieht es danach aus, als ob Erika Steinbach ihren Platz im Stiftungsrat nicht wird einnehmen können. Warum?

Der Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung, der diesseits wie jenseits der Oder hochverehrte Deutschlandkenner, KZ-Überlebende und ehemalige Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, dramatisierte die Debatte um die Personalie Steinbach, indem er Anfang Februar mit Sanktionen drohte, falls die Bundesregierung eine Benennung Steinbachs zulasse. Er erklärte der polnischen Nachrichtenagentur PAP außerdem, eine Berufung Steinbachs sei eine "politische Unanständigkeit" und erging sich in Vergleichen mit Holocaust-Leugnern. Am 17.02.09 wurde Bartoszewski von der Bundeskanzlerin zu einem vertraulichen Gespräch empfangen und kehrte angeblich beruhigt nach Warschau zurück.

SPD, Grüne und nun auch FDP und Linke waren - wenn nicht schon aus Prinzip dagegen - eher skeptisch bis kritisch zurückhaltend gegenüber dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen und machen nun erneut offen Front gegen die Kandidatur von Erika Steinbach. Gesine Schwan, die Bundesbeauftragte für die deutsch-polnischen Beziehungen und angehende Bundespräsidentenkandidatin im zweiten Anlauf, ließ verlauten, sie gehe ganz sicher davon aus, daß die SPD eine Kandidatur von Frau Steinbach nicht zulassen und außerdem die Bundeskanzlerin ganz sicher die deutsch-polnischen Beziehungen durch eine Nominierung Steinbachs nicht aufs Spiel setzen werde.

Claudia Roth, Bundesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erklärte: „Es ist eine gezielte Provokation, wenn Erika Steinbach sich von ihrem Vertriebenenbund nun auch offiziell für den Beirat der Bundesstiftung ,Flucht, Vertreibung, Versöhnung' nominieren lässt. ... Kanzlerin Merkel darf sich bei dieser wichtigen Personalie nicht schon wieder wegducken. Das Bundeskabinett und vor allem die Kanzlerin müssen schnellstens klarstellen, dass Frau Steinbach dem Beirat der Bundesstiftung nicht angehören wird. Im 70. Jahr des deutschen Angriffs auf Polen brauchen wir ein würdiges Gedenken und wirkliche Signale der Versöhnung, und nicht die Winkelzüge von Uralt-Spaltern, die seit vielen Jahren die Beziehungen mit unseren polnischen Nachbarn belasten.“

Die Kanzlerin will offenbar zur Zeit noch keine offizielle Entscheidung zur Berufung Steinbachs verlauten lassen, während andere Stimmen in der CDU und CSU Zustimmung signalisieren. Die anstehenden Wahlen in diesem Jahr werden die eine odere andere Politikerstellungnahme noch entsprechend einfärben: rhetorische Platzhirschattitüden und verbales Gorillamännchengehabe nehmen zu - auch unter den Weibchen der Spezies homo politicus.

Die polnische Presse hat Erika Steinbach nicht erst seit der Regierungsepisode der Kaczynski-Zwillinge als Hassfigur entdeckt. Sie ist seit Jahren die bekannteste Deutsche überhaupt in Polen. Aber vor allem, als in der Regierungszeit der Kaczynskis die Gefahr aus Deutschland hysterisch hochstilisiert wurde, überschlug sich die polnische Presse mit Horrormeldungen und entsprechenden Titelblättern: die Steinbach als peitschenschwingende Domina in SS-Uniform auf dem am Boden kriechenden Bundeskanzler Schröder ist nur ein krasses Beispiel von vielen. Die Steinbach mußte herhalten als Projektionsfläche für alle nur denkbaren Alpträume und Ängste polnischer Deutschlandhasser und sicherte ungewollt die Auflagenhöhe polnischer Presseerzeugnisse (die teilweise zum deutschen Springer-Konzern gehören).

Bartoszewski selbst hatte Anteil daran, dass Steinbach, die er einmal eine "blonde Bestie" nannte, in Polen nun als eine Art Volksfeind gilt und das ganze Thema einen Schatten auf die deutsch-polnischen Beziehungen geworfen hat. Seit nun die Regierung Tusk die Amtsgeschäfte in Polen übernommen hat, bemüht man sich wieder um ein „normales“ Verhältnis zu Deutschland. Aber die zu einer „blonden Bestie“ hochstilisierte Erika Steinbach spukt nachhaltig in polnischen Köpfen. Man kann nun nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und die Steinbach-Geschichte einfach vergessen. Die Gespenster, die man inszenierte, wollen mit dem Regierungswechsel nicht einfach weichen. Außerdem ist Bartoszewski in Polen unter Druck geraten, nachdem ihm Vertreter von Veteranenverbänden vorgeworfen hatten, sein Schicksal im Zweiten Weltkrieg in seinen Erinnerungen für den deutschen Lesermarkt dramatischer dargestellt zu haben, als es in Wirklichkeit gewesen sei. Im vergangenen Jahr wurde er auf einem Veteranentreffen ausgepfiffen. Das erprobte Feindbild, die Steinbach, könnte eine wirksame Siegestrophäe zur Sicherung des eigenen Ansehens in Polen abgeben. Tusk gilt bei den Nationalkonservativen in Polen grundsätzlich als zu deutschfreundlich und kann es sich daher nicht erlauben, vernünftig in der Causa Steinbach zu agieren. Er braucht eine abgedankte Steinbach als Beweis für seinen Patriotismus. In Polen argumentiert man außerdem, daß die Regierung Tusk alle antideutschen Scharfmacher aus ihren Gremien und Vorständen entfernt hätte und erwartet deshalb gleiches von deutscher Seite: die „Beseitigung“ der angeblichen „Scharfmacherin“ Steinbach auf deutscher Seite - ein absurder Kuhhandel.

In Deutschland war Erika Steinbach in der allgemeinen Bevölkerung kaum bekannt. Erst durch die polnischen Reaktionen meint nun auch eine nennenswerte Mehrheit in Deutschland zu wissen, wer sie ist. Man meint zu wissen, indem man mal schlicht annimmt, wenn von polnischer Seite so lautes Protestgeschrei zu hören ist, dann müsse es sich schon um eine abgrundtief schlimme Person handeln, also so etwas wie eine ultrarechte Naziheroine. Jetzt denkt man aus falschen Zitaten polnischer Blätter genau über sie Bescheid zu wissen. Nun scheint auch ein alptraumhaftes Gespenst mit dem Etikett "Erika Steinbach" durch deutsche Köpfe zu spuken.

Seit Beginn ihrer Amtszeit hat Frau Steinbach sich beharrlich für ein Zentrum gegen Vertreibungen eingesetzt, hat beharrlich betont, daß es um das gesamteuropäische Thema mit Berücksichtigung der Ursachen und Auswirkungen gehe. Reflexhaft behaupten polnische und seltsamerweise auch deutsche Politiker, es gehe ihr um ein revanchistisches Unternehmen mit dem Versuch der Umkehrung von Ursache und Wirkung der Vertreibungen. Die erfolgreich konzipierte Wanderaustellung zum Thema, von der Regierung Kaczynski seinerzeit mit wüsten Unterstellungen bedacht, bewies das Gegenteil.

Ich füge einen Kommentar von Afred de Zayas ein, erschienen in der FAZ am 28.02.09:
Als amerikanischer Beobachter der Debatte über die „Stiftung Flucht,Vertreibung, Versöhnung" begrüße ich die Entscheidung des Bundestages, die Gedenkstätte in Berlin zu errichten. Ich bedauere jedoch die Politisierung der Diskussion. Denn es geht um Opfer großen Unrechts und um die Notwendigkeit der Besinnung, damit Vertreibungen künftig nicht mehr geschehen. Es ist geschichtlich nicht zu bestreiten, dass die deutschen Vertriebenen Ungeheuerliches erlitten haben.

Dies wurde bereits 1945 auch von General Eisenhowers Berater Roben Murphy, von Bertrand Russell, Victor Gollancz und Albert Schweitzer festgestellt. Die gegenwärtige Diskussion geht unter die Gürtellinie; sie bedeutet Hohn und Unbarmherzigkeit gegenüber den Opfern. Die persönlichen Angriffe gegen Erika Steinbach als Vertreterin der Vertriebenen zeigen, wie wenig sich manche Politiker und Journalisten in Deutschland, Polen und in der Tschechischen Republik mit der menschenrechtlichen Bedeutung der Vertreibung auseinandergesetzt haben.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, José Ayala Lasso aus Ecuador, sagte am 6. August 2005 im ICC-Berlin in Anwesenheit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und Erika Steinbach: „Auch ich unterstütze die Idee, ein internationales Zentrum zum Kampf gegen Bevölkerungsumsiedlungen einzurichten, dessen Aufgabe nicht nur das Dokumentieren und Erforschen von Vertreibungen in der Vergangenheit sein soll, sondern das sich ebenfalls zum Ziel setzt, zukünftige Vertreibungen überall auf der Welt zu verhindern, indem es Aufklärung betreibt und das öffentliche Bewusstsein schärft für die Schrecken, die durch gewaltsame Bevölkerungsumsiedlungen entstehen, indem es Frühwarnstrategien entwickelt und die Maßnahmen der Vereinten Nationen auf diesem Gebiet unterstützt."

Sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten sind Vertreibung und Verschleppung völkerrechtswidrig. Das Nürnberger Urteil hat die von den Nationalsozialisten betriebenen „Bevölkerungstransfers" eindeutig verurteilt. Gemäß Artikel. 8 des Statuts des internationalenStrafgerichtshofs aus dem Jahre 1998 gelten Vertreibungen als Kriegsverbrechen, gemäß Artikel 7 als Verbrechen gegen die Menschheit. Vertreibung kann als Völkermord bezeichnet werden, wenn es nachweislich die Absicht des Vertreiberstaates ist, eine Volksgruppe auch nur teilweise zuvernichten. Dies ist auch die Rechtsprechung des Internationalen Strafrechtstribunals für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Wenn etwa Srebrenica als Völkermord gilt, so könnten auch größere Massaker während der Vertreibung der Deutschen als Völkermord eingestuft werden. Das Völkerrecht gilt gleichermaßen für alle. Juristerei à la carte ist ein Widerspruch in sich.

Im Jahr 2000 gründeten Erika Steinbach und Peter Glotz, die „Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen" mit dem Ziel, alle Vertreibungen zu studieren, alle Opfer zu würdigen - nicht nur die deutschen. Leider ist Glotz viel zu früh verstorben. Steinbach hat die Aufgabe mit Vernunft und Augenmaß weitergeführt. Sie hat ihre Bereitschaft zur Versöhnung mehrfach bewiesen. Wer will, kann darüber nachdenken, ob diese Bereitschaft in den Regierungskreisen Polens oder der Tschechischen Republik durchgehend vorhanden ist. In den Jahren 2006 und 2007 organisierte das Zentrum die ausgezeichnete Wanderausstellung „Erzwungene Wege", die sich mit Erfolg an der Geschichte und an den Menschenrechten orientierte.


Unter der nationalsozialistischen Besatzung war den Völkern Ost- und Mitteleuropas unermessliches und unvergessliches Leid zugefügt worden. Die polnischen, tschechoslowakischen, russischen Opfer hatten daher ein Recht auf Wiedergutmachung. Jedoch dürfen legitime Ansprüche nicht durch die Verhängung von Kollektivstrafen aufgrund allgemeiner Diskriminierung und ohne die genaue Untersuchung persönlicher Schuld verwirklicht werden. Die Vertreibung von 14 Millionen Menschen war damals eine Ungeheuerlichkeit. Man darf es weder aufrechnen noch kleinreden. Die Menschenrechte beruhen auf dem Grundsatz der Gleichheit der Menschen. Aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist mit Ehrfurcht zu gedenken, denn jedes einzelne Menschenleben ist heilig.

Die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ist ein Forum für Annäherung und Verständigung. Dafür braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, offen und ehrlich miteinander zu reden. Es liegt auf der Hand, dass die deutschen Vertriebenen in dieser Stiftung ohne Einschränkung vertreten werden müssen, unter anderen durch ihre gewählte Vertreterin, Frau Steinbach. Anders wäre die Stiftung sinnlos.

Der Verfasser lehrt Völkerrecht an der Geneva School of Diplomacy und ist Mitglied des Beirates der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.

Heute abend, am 1. März 2009, wird in der Diskussionsrunde bei Anne Will über dieses Thema debattiert werden. Im Vorlauf kann man bereits in einem BLOG seine Meinung mitteilen: http://annewill.blog.ndr.de/2009/02/27/deutsch-polnischer-zoff/ . Ich schrieb darin folgendes:

Ich wurde 15 Jahre nach Kriegsende geboren und bin seit 10 Jahren mit einem polnischen Partner verheiratet. Meine Eltern stammen beide aus Ostpreussen. Meine Mutter hat als junges Mädchen bis 1948 in russischer Zwangsarbeit verbracht.

Meine Eltern haben sich bereits in den 50er Jahren von den Aktivitäten der Vertriebenenverbände abgewandt, sich um eine lupenrein hochdeutsche Ausprache bemüht, niemals in der Öffentlichkeit über ihre Herkunft gesprochen und versucht zu vorbildlichen (West-)Deutschen zu werden. Sie wollten die traumatischen Ereignisse ihre Jugend vergessen, wollten der herben Ausgrenzung im Westen durch Überanpassung die Spitze nehmen. So funktionierte die Integration der Flüchtlinge! Ich wurde in eine makellose westdeutsche Existenz hineingeboren, in der die Zeit vor 1949 (als meine Mutter in den Westen gelangte) schlicht nicht vorkam.

Ich habe mir seit einigen Jahren meine Familiengeschichte durch intensive Recherchen in Archiven erschlossen und fühle endlich mehr und mehr Boden unter den Füßen. Nun muß ich mir allerdings von kritischen (deutschen!) Zeitgenossen vorhalten lassen, daß eine familienhistorische Bezugnahme auf nun polnische oder russische Gebiete politisch bedenklich sei.

In meinem polnischen Bekanntenkreis wird die Herkunft meiner Familie schlicht als Faktum gesehen. Keiner fühlt sich dadurch bedroht. Man weiß sehr wohl von der manipulativen Stimmungsmache in der polnischen Presse und der Realität zu unterscheiden. Man kümmert sich schlicht nicht darum und läßt die Öffentlichkeit, die Politiker denken was sie wollen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen mir die politischen Eiertänze um Frau Steinbach und ihr Zentrum gegen Vertreibungen einfach absurd. Die Gespenster in der Köpfen polnischer und deutscher Politiker führen zu Scheingefechten und Dissonanzen, die mit der Realtiät nichts mehr zu tun haben. Man benutzt das Thema diesseits wie jenseits der Oder, um eigene Machtinteressen zu verfolgen.

Meine Eltern haben immer noch subtile Ängste, daß sie Ausgrenzung befürchten müssen, wenn man sie als Flüchtlinge erkennt. Sie werden sicherlich nicht mehr als Pollacken oder Zigeuner beschimpft wie noch in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wollen sich aber nicht von "richtigen" Deutschen wegen ihrer Herkunft als "Ewiggestrige" diffamieren lassen.

Ich finde, es ist ein zuallererst innenpolitsches Problem, wie man in Deutschland mit der heiklen Stimmungslage zur Vertriebenenproblematik umgeht. Verdrängen, Vermeiden, Diffamieren führt in eine bedrohliche Sackgasse, deren Auswüchse sich in der politischen Diskussion offenbaren. Hier ist die Politik in der Verantwortung, zu einer klaren offenen Haltung zu finden. Die Realisierung eines Zentrums gegen Vertreibungen könnte ein innenpolitisches Signal sein, daß sich Vertriebene nun wirklich in der bundesdeutschen Realtität angenommen fühlen dürfen. Wenn dafür Erika Steinbach als “Bauernopfer” herhalten muß, um die Gespenster in den Köpfen diesseits und jenseits der Oder zu beruhigen, finde ich das zutiefst bedauerlich. Nur w
enn es der Sache wirklich diente, erschiene solch ein Opfer gerechtfertigt.


~ ~ ~ ~ ~
Wir werden sehen, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Ich bin erstaunt, daß noch niemand in der laufenden Debatte auf die Idee gekommen ist, daß eine ernsthafte Aufarbeitung der Vertreibungsdebatte in einem entsprechenden Zentrum auch zu einer ehrlicheren Integration der Vertriebenen und deren Nachkommen in Deutschland führen könnte. Darin eine Gefahr für den Frieden zu sehen, finde ich absurd. Solange man sich unter den Betroffenen und deren Nachkommen noch um den Ruf sorgen muß, wenn man nicht nur hinter vorgehaltener Hand auf die familiäre Herkunft Bezug nimmt, ist Integration noch nicht wirklich gelungen.



Labels: ,