Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Not- und Hungerjahre in Ostpreußen nach 1815 und ein Vulkanausbruch in Indonesien

Aus verschiedenen Quellen erfahre ich von Notjahren nach 1815: in der Landwirtschaft gibt es Missernten, das Wetter ist ungewöhnlich schlecht, zuviel Kälte und Regen, ungewöhnlich spät einsetzende Frühjahrs- und Tauwetterzeiten, die eine rechtzeitige Aussaat verzögern, zu frühe Wintereinbrüche, die eine Einbringung der bescheidenen Ernte oft verhindern. Die Verwaltungen beklagen Steuerrückstände und eine steigende Zahl von 'Subhastationen' bei Gütern und Höfen, also Zwangsversteigerungen. Schauen wir direkt in einen zeitgenössischen Bericht: 

> Der Bezirk des Amts Grünhoff liegt zwischen den Aemtern Schaacken, Caporn, Fischhausen, der Ostsee und grenzt an das Kurische Haf.

     Der jetzige Nahrungs- und Wirthschafts-Zustand der gedachten Amts-Einsaßen ist schlecht und sinkt mit jedem Jahre mehr.

     Der Grund dürfte in seit mehreren Jahren stattgefundenen Miswachs-Erndten und hauptsächlich in der allgemeinen Senkung des Handels-Verkehrs, wodurch die Geldmittel immer weniger werden, zu finden seyn.

     Außer der Fischerey-Nutzung in der Ostsee, welche von den Dörfern Crantzkuhren, Neukuhren und einigen einzelnen Eigenthümern in anderen Dörfern betrieben wird, die aber auch keinen ergiebigen Gewinn liefert, ist das Haupt-Gewerbe der Einsaaßen reiner Akkerbau, und da dieser, wie erwehnt, seit mehreren Jahren schlecht ausgefallen ist, und der Handels-Verkehr immer mehr sinkt, so muß die Dürftigkeit der Einsaaßen mit jedem Jahre fühlbarer werden; selbige sind jetzt schon in der traurigen Lage, ihre bedeutende laufende Abgaben nicht entrichten zu können, versinken mit jedem Jahre tiefer in Schulden und ihre Subsistence wird um so schwankender, als die Erwerbs-Quellen erschöpft sind und sie keine Aussicht haben, jemals wieder empor zu kommen.<
Aus: GStAPK, XX. HA, PT 10 Grünhoff (1823),  Praestationstabelle des Amtes Grünhoff 

Aus der Feder eines nüchternen Verwaltungsbeamten ist dieser Bericht sicherlich nicht als übertrieben zu werten. Im Gegenteil: das klingt alarmierend und dramatisch und steht in starkem Kontrast zu früheren Jahrgängen, wo in den Praestationstabellen überwiegend über gute Erträge und ordentliche Lebensbedingungen berichtet wird. Vor allem im mittleren bis östlichen Samland (Kirchspiele Powunden, Laptau, Rudau, Schaaken, Caymen) ist der Boden recht gut und liefert sehr zufriedenstellende Erträge. Nur gelegentlich wird von Seuchen berichtet, die die Viehbestände dezimieren und es in der Folge auf einigen Höfen an Pferden, Kühen oder Schafe fehlt, was aber nach einigen Jahren wieder ausgeglichen ist. Wenn zu wenig Getreide geerntet wird, wenn nicht genügend Heu für den Winter eingebracht werden kann, dann hungern Menschen und Vieh. Wenn man im Frühjahr das für die Aussaat vorgesehene Getreide für das eigene Überleben im Winter verbraucht hat, steht es sehr schlecht und man muss auf Kredit teuer dazukaufen.

In anderen Gegenden Ostpreußens wird gar von Hungersnöten in den Jahren um 1816 berichtet. 

Wenn man diese Berichte in Bezug setzt zu ähnlichen  Nachrichten aus anderen Regionen und Weltgegenden, gelangt man zu einem verblüffenden und erschreckenden größeren Bild:
In Mitteleuropa kam es zu schweren Unwettern. Zahlreiche Flüsse (unter anderem der Rhein) traten über die Ufer. In der Schweiz schneite es im Juli bis in tiefe Lagen. Durch die geringere Schneeschmelze im Vorjahr und die angesammelten zusätzlichen Schneefälle zum Beispiel in den Alpen führte die Schneeschmelze örtlich zu katastrophalen Überschwemmungen.
Der Getreidepreis erreichte im Folgejahr (1817) das Anderthalbfache des Niveaus von 1815. Am stärksten betroffen war das Gebiet unmittelbar nördlich der Alpen: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und das österreichische Vorarlberg. Hier erreichte der Getreidepreis im Juni 1817 das Zweieinhalb- bis Dreifache des Niveaus von 1815. An einzelnen abgelegenen Orten wurde auch das Vierfache erreicht.
In Osteuropa (geprägt vom Kontinentalklima) und Skandinavien waren dagegen kaum Auswirkungen feststellbar. So stieg in Polen der Getreidepreis von 1815 bis 1817 wegen der verstärkten Exportnachfrage um lediglich ein Viertel.

Wissenschaftler machen dafür den Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 verantwortlich. Der Vulkan Tambora liegt auf der indonesischen Insel Sumbawa. "Der Vulkanausbruch förderte 160 Kubikkilometer Tephra und hinterließ eine 7 Kilometer große Caldera, als der Gipfel des Vulkans nach der Eruption einstürzte. An den unmittelbaren Folgen des Ausbruches starben ca. 12.000 Menschen. An den Spätfolgen der Eruption starben mindestens 71.000 Menschen. Sie wurden Opfer des vulkanischen Winters, der 1816 weite Teile von Nordamerika und Europa im Griff hatte und durch den Ausbruch ausgelöst wurde. Asche und Schwefelsäure-Aerosole verteilten sich global und ließen die globalen Durchschnittstemperaturen im Folgejahr der Eruption um 3 °C sinken. Chaotische Wetterverhältnisse, Missernten und dadurch bedingte Hungersnöte waren die Folgen. Das Jahr 1816 ging als 'Das Jahr ohne Sommer' in die Analen der Geschichtsbücher ein."

Obwohl Ostpreußen aufgrund seiner Lage am Rande der osteuropäischen Kontinentalklimazone noch am wenigsten betroffen schien, waren auch dort die Auswirkungen noch deutlich spürbar wie der oben zitierte Bericht belegt.

Bemerkenswert ist, dass es noch jahrzehnte nach dem Vulkanausbruch zu merklichen Veränderungen im Tageslicht kam. Besonders ausgeprägt war dies abends und morgens, da die Sonnenstrahlen dann auf ihrem langen Weg durch die Atmosphäre auf erheblich mehr Partikel stießen, dadurch gestreut wurden und überwiegend die langwelligen Anteile des Lichtspektrums beim Betrachter ankamen. Die biedermeierlichen Sonnenuntergänge in Europa waren von nie dagewesener Pracht – in allen Schattierungen von Rot, Orange und Violett, gelegentlich auch in Blau- und Grüntönen. Die grandiosen Abendstimmungen und die intensiven Erdfarben, Ocker und Gelbtöne von William Turner, die außerhalb von Landschaften mit entsprechender natürlicher Farbgebung (etwa der Toskana und der Camargue) fast unwirklich erschienen, wurden davon sichtlich beeinflusst.

 

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Sonntag, 1. Oktober 2017

Ausweisung aus dem sowjetischen Ostpreußen


Auf der Rückseite dieser alten sowjetischen Postkarte hat meine Mutter die Stationen der Ausweisung notiert.

Im Herbst 1948 arbeitete meine Mutter als 16-jähriges Mädchen in Cranz für eine sowjetische Marineeinheit: das Soldatenkino, die Krankenstation und die Bibliothek sauber machen, in der Bibliothek Bücher und Zeitungen wieder einsortieren. An den Feiertagen hatte sie Blumengirlanden gebastelt für die Lenin- und Stalinbüsten. Die Verhältnisse waren einigermaßen zivilisiert. Übergriffe oder Zudringlichkeiten von Marineangehörigen wurden geahndet und kamen nicht mehr vor. Es gab gelegentlich hässliche Kommentare der neu angesiedelten Russen beim Anstehen für Nahrungsmittel. Meine Mutter wurde als Faschistin tituliert, die doch eigentlich kein Recht auf anständige russische Lebensmittel haben dürfe. Es wurde versucht, sie beiseite zu drängen.

Der damals neunjährige Bruder meiner Mutter wurde beim Spielen am Strand von russischen Kindern beinahe in der Ostsee ertränkt. Ein schon fast erwachsenes russisches Mädchen griff ein und rettete ihn. Er kann sich heute an nichts mehr aus der 'Russenzeit' erinnern. Aber diese Geschichte fiel ihm unvermittelt ein, als er mich in seinem Auto im Sommer 2009 zur Bushaltestelle für den Bus nach Kiel fuhr. In Kiel bestieg ich die Fähre nach Klaipeda und trat meine erste Reise in den Kaliningradskaya Oblast an.

1948 war Cranz bereits ein lebendiges Seebad für verdiente Sowjet-Bürger. Der Ort war weitgehend unzerstört. Sowjetische Offiziere und ihre Familien verbrachten dort ihren Urlaub. Die Lebensbedingungen für die verbliebenen Deutschen waren zwar einigermaßen sicher, aber es gab wie in den oben geschilderten Beispielen immer wieder Anlässe für unangenehme Erlebnisse. Den Deutschen ging es ebenso gut oder so schlecht wie den Russen. Sie waren jedoch keine gleichberechtigten Sowjet-Bürger. Man musste hier und da mit herabsetzenden Schikanen und unberechenbarer Willkür rechnen. Es wurde zwar nicht mehr gehungert, aber es gab nicht alles oder von allem zu wenig. Man kaufte Lebensmittel ohne Karten direkt auf dem Markt oder im Magazin (Kaufladen). Der in Rubel ausgezahlte Lohn reichte irgendwie zum Überleben.

Die ungeklärte Lebensperspektive der Deutschen hinderten die Jugendlichen nicht daran, gelegentlich auch ihren Spaß zu suchen. Man musste jedoch auf der Hut sein. Es gab Politkommissare, die auch deutsch verstanden. Wenn man in Gruppen beisammen war, versuchten gewisse Lauscher zu verstehen, was dort gesprochen wurde. Man wechselte dann die 'Sprache', vertellte sich was auf ostpreußisch Platt, machte Witze über die Russen und lachte. Gelegentlich sang man gemeinsam miteinander am Strand. Das wurde von den Russen als harmlose Folklore betrachtet. Aus einer Laune heraus entstand eine Art 'Protestlied' nach dem Vorbild „Wo die Ostseewellen...“ *). Der Text lautete so:

Wo der Preußenbauer einst bestellt sein Land
und den Pflug geführet hat mit sichrer Hand
wo die Lerche sang so hell im Sonnenschein
da ist jetzt der Iwan und wir sind nun sein.

Unsre Felder sehn wie eine Wüste aus
nirgends findet man ein ganzes gutes Haus
Überall sieht man ein ernstes Bleichgesicht
mit der einen Frage: Iwan gehst du nicht?

Wo ist Vater, Bruder, Sohn und Freund und Mann
ob man sie noch einmal wiedersehen kann
sitzen alle samt vereint im Deutschen Reich
Iwan ließ uns ziehn, ach wir gingen gleich.

Sind wir müde von der Arbeit heimgekehrt
kochen wir die ewge Supp auf unserm Herd
mutig sind wir doch und halten tapfer aus
wenn wir nur dies wüßten, kämen wir mal raus?

Iwan du, du hast uns bettelarm gemacht
über unsern Jammer hast du nur gelacht
so geht’s uns nun hier, wo Milch und Honig fließt
so geht’s uns in eurem Sowjetparadies.

Heute kommentiert meine Mutter die Sache folgendermaßen: >Jugendlicher Leichtsinn – hätten die Russen auch nur geahnt, um was es ging, wir wären alle in Sibirien gelandet.<

Manchmal hat meine Mutter auch 'nebenbei' in Offiziersfamilien Kinder gehütet oder andere 'haushaltsnahe Dienstleistungen' erbracht. Es gab dafür Lebensmittel, die auf dem Markt schwer zu kriegen waren. Dabei kam es gelegentlich zu vertraulichen Gesprächen. Offiziere offenbarten sich als gebildete Menschen, die mehrere westeuropäische Sprachen beherrschten. Sie wollten von meiner Mutter wissen, wie die Lebensbedingungen zu deutscher Zeit waren. Sie erzählte frei heraus, was alles zum elterlichen Betrieb gehörte: der Krug, die Landwirtschaft, Kühe, Pferde, Schweine, Hühner und Gänse, Getreideernten, Heu fürs Vieh usw. Das passte nun überhaupt nicht zu dem Bild, was die sowjetische Propaganda verbreitete: der Kommunismus als Krone der menschlichen Schöpfung – alles andere wären unterentwickelte Vorstufen. Das, was die Russen in ihrem eroberten Ostpreußen vorfanden, widersprach selbst in kriegsbeschädigtem Zustand den Thesen der Propaganda und war allemal besser als das, was die meisten Russen aus ihrer kommunistischen Heimat kannten.

Neuere Forschungen in russischen Archiven belegen, dass es zunächst Pläne gab, die in den zur Sowjetunion gekommenen Gebieten verbliebene deutsche Bevölkerung zu 'sowjetisieren' **). Sie sollten in einer neu zu schaffenden sowjetischen Musterregion in der allgemeinen Bevölkerung aufgehen. In den Jahren 1945 – 47 gab es jedoch beunruhigende Meldungen der Politkommissare nach Moskau: der Kontakt zwischen Russen und Deutschen fördere unerwünschte Effekte, der Kommunismus würde in Frage gestellt. Das führte wahrscheinlich zu dem Stalin-Befehl, ab 1947 alle Deutschen auszuweisen in die 'Ostzone'. Bekannterweise kamen als Erstes die 'unbrauchbaren' Alten und Kinder in die Transporte. Sogenannte 'Spezialisten' und ihre Familien wurden so lange wie möglich behalten.

In Cranz wurde im September 1948 bekannt, dass es einen Abtransport der restlichen Deutschen geben solle. Am 12. September hatten sich alle Deutschen am Bahnhof einzufinden. In der Familie meiner Mutter veräußerte man die geringen Habseligkeiten, die man nicht mitnehmen konnte, um dafür Lebensmittel für die Reise zu erstehen. Beim Verlassen der Wohnräume warteten schon Russen, die dort einziehen sollten. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs fanden sich weit über 1000 Menschen ein. Es gab aber keinen Zug. Im Bahnhof hieß es, man solle wieder zurückgehen, es gäbe keinen Transport. Aber zurück konnte niemand. Die Wohnräume waren bereits von Russen besetzt, die keinesfalls weichen würden. So kampierte man irgendwie am, im und um den Bahnhof herum bei feuchtem Wetter im Nieselregen. Am 13. September kam endlich ein Zug mit Güterwaggons. Etwa 60 Personen wurden in einen Waggon gepfercht.

Aus einem Erlebnisbericht meiner Mutter: „Nachts kamen wir in Königsberg an, wir mußten im Dunkeln umsteigen. Es wurde schikaniert und geschimpft, auch durch Stockschläge nachgeholfen, wenn wir nicht schnell genug liefen. Jeder Rucksack wurde durchwühlt. Meine Mutter mußte sich in einer Kabine ausziehen und eine Russenfrau hat nachgesehen, ob in den Kleidern noch etwas versteckt war. Fotographien und Briefe meines Vater [die über einem Jahr unterwegs gewesenen Überlebensbotschaften aus England] behielten die Russen. Endlich kamen wir in dem großen Durcheinander auf den Gleisen in der Nähe des Hauptbahnhofs zu dem für uns bestimmten Waggon. Die Alten und Kinder schafften es nicht ohne Hilfe, vom Gleisbett in den Waggon zu klettern. Wir waren 68 Personen. Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter. An der polnischen Grenze wurden wir noch einmal gezählt.“

Meine Mutter erinnert sich, dass der ihnen zugewiesene Waggon in Königsberg die Nummer 39 trug. Wenn man annimmt, dass die Zählung der Waggon-Nummern mit 1 begann und mit Nummer 39 noch nicht das Ende des Zuges erreicht war, sich in jedem Waggon etwa 60 Personen befanden, wurden in diesem Zug sicherlich mehr als 2.500 Personen nach Westen verfrachtet. Die Waggontüren ließen sich nur von außen öffnen. Die meiste Zeit stand der Zug irgendwo auf der Strecke und wartete auf das Signal zur Weiterfahrt. Die wenigen Lüftungsschlitze brachten nicht genug frische Luft herein, wenn der Zug nicht fuhr. Es wurde unerträglich stickig in dem Waggon.

Nicht alle 'Umsiedler' kamen direkt aus Cranz. Es gab z.B. auch Leute aus Palmnicken unter den 'Umsiedlern', die meiner Mutter besonders auffielen, weil sie an allen Kleidungstücken Knöpfe aus Bernstein trugen. Sie hatten in den Bernsteingruben und -schleifereien gearbeitet. Bei den Kontrollen wurden die besonderen Knöpfe erstaunlicherweise nicht weiter beachtet. - Man kann wohl annehmen, dass die abzutransportierenden Deutschen in diesem Zug aus dem gesamten Samland kamen.

Folgende Stationen hat meine Mutter auf einer sowjetischen Postkartenrückseite mit einem Bleistiftstummel notiert:
Königsberg
Pr. Eylau
Bartenstein
Korschen
Allenstein
Osterode
Dt. Eylau
Bromberg
Schneidemühl
Kreuz
Landsberg/Warthe
Küstrin
Eberswalde
Angermünde (17.9.)
Seehausen
Blankensee
Neustrelitz
Magdeburg
Eickendorf
Stassfurt
Neundorf
Güsten
Sandersleben
Hettstedt
Sieksleben
Klostermannsfeld
Blankenheimer Tunnel 875 m
Riestedt
Sangerhausen
Wahthausen
Heiligenstadt (20.9. - 3.10. Lager)
Wangenheim

Die Waggoninsassen versuchten durch die Lüftungsschlitze zu erspähen, wohin man fuhr. Es gab die nicht unbegründete Befürchtung, nicht nach Westen, sondern nach Osten, nach Sibirien verfrachtet zu werden. Man wusste von vielen Ostpreußen, die in sibirische Lager gekommen waren. Beim Grenzübertritt an der Oder bei Küstrin wurden alle Waggoninsassen mit Läusepulver traktiert. An einer Station in Mecklenburg wurde einmal etwas Brot verteilt. Dann ging es weiter durch Anhalt und Thüringen. Eine Woche hat man aus dem eigenen Reiseproviant überleben müssen. Der auf der ganzen Strecke von sowjetischen Soldaten begleitete Zug erreichte am 20. September Heiligenstadt. 

Die 'Umsiedler' wurden in ein Aufnahmelager eingewiesen. Dazu diente ein mit Stacheldraht eingezäuntes Gymnasium (heute Lingemann-Gymnasium in Heiligenstadt). Die Klassenräume waren mit Doppelstockbetten ausgestattet. Es gab endlich regelmäßig zu essen. Im direkt an das Schulgelände angrenzenden Fluss (Leine) hat jeder sein Blechgeschirr gewaschen. In der Aula fanden politischen Versammlungen und 'bunte Abende' mit Tanz statt. Arbeitsfähige junge Männer wurden im Lager für den Uranbergbau angeworben. Wie man später erfuhr, sind die Männer kurz nach Eintreffen in Sachsen aus den Gruben direkt in den Westen geflohen. Die Arbeitsbedingungen sollen furchtbar gewesen sein. 

Am 3. Oktober wurden die Lagerinsassen auf andere Ortschaften verteilt, um Platz für die nächsten 'Umsiedler' zu schaffen. Da man zu der Region überhaupt keinen Bezug hatte und nicht dauerhaft bleiben wollte, ließ man sich in irgend einen Ort weisen, den die Verwaltung bestimmte und sollte nach Wangenheim nördlich von Gotha kommen. Die 'Umsiedler' wurden in Heiligenstadt in den Zug gesetzt und stiegen an der entsprechenden Bahnstation aus. Wangenheim hatte keinen eigenen Bahnhof. Die etwa 15 'Umsiedler' für Wangenheim wurden mit einem von Ochsen gezogenen Leiterwagen von der Bahnstation abgeholt, was die Betroffenen befremdlich fanden. In Wangenheim wurde Erntedankfest gefeiert. Es gab einen festlichen Umzug mit Musikkapelle. Die 'Umsiedler' wurden vorläufig in einer Art leerstehenden Kindergarten untergebracht und dann für ein Mittagessen auf verschiedene Familien im Ort aufgeteilt. In den nächsten Tagen bekamen sie Zimmer in privaten Häusern. Es wurde etwas Sozialgeld verteilt. Die 'Umsiedler' sammelten sich übrig gebliebene Kartoffeln von den Feldern, suchten Brennholz im Wald und organisierten sich ihr Leben.

Da die Familie meiner Mutter bereits wusste, dass der Vater in der britischen Besatzungszone lebte, wollte man dorthin weiterreisen. Dazu schrieb man sich Briefe, um die Bedingungen herauszufinden. Der Vater musste eine Zuzugsgenehmigung für die britische Zone beantragen. Obwohl Holstein damals mehr Flüchtlinge als Einwohner zählte, es keinen geeigneten Wohnraum gab und man nur in notdürftigen Baracken lebte, erhielt der Vater nach Monaten die beantragte Genehmigung. Die Behörden in der russischen Besatzungszone zeigten sich davon unbeeindruckt. Eine Ausreisegenehmigung wurde beantragt, jedoch war nicht abzusehen, ob oder wann man diese erhalten würde. 

Es hatte sich bereits unter den Flüchtlingen herumgesprochen, dass es schwierig war, 'schwarz' über die grüne Grenze zu gelangen, die von sowjetischen Soldaten bewacht wurde. Den ortsunkundigen Flüchtlingen war der Verlauf der Zonengrenze nicht bekannt. Landkarten gab es nicht. Wer erwischt wurde, hatte nichts Gutes zu erwarten. Es fanden sich jedoch überall willige Helfer unter den Einheimischen, die sich mit illegalen Grenzübertritten etwas dazuverdienten. Bereits in Heiligenstadt hatten Einwohner der Stadt durch den Zaun des Lagers solche Dienste angeboten. 

Im Februar 1949 wagte die Familie meiner Mutter mit einigen anderen die Reise in Richtung Grenze – zunächst mit der Bahn über Mühlhausen bis nach Leinefelde. Dort fanden sich Männer, die sie über die Grenze bringen wollten. Man gab ihnen das letzte Ostgeld und begann einen langen Nachtmarsch. Ohne es vorher zu wissen, hatte man für diesen illegalen Grenzübertritt einen günstigen Tag gewählt: am 23. Februar wird in der Roten Armee der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ (russisch День защитника Отечества) gefeiert. Man hoffte auf ein leichteres Durchkommen, weil unter den Soldaten aus Anlass des Feiertages viel getrunken wurde und die Grenzstreifen wahrscheinlich weniger gründlich patrouillierten. Trotzdem mahnten die Fluchthelfer, unbedingt zu schweigen und verräterische Geräusche zu vermeiden. Aber wie macht man das mit einem neunjährigen Bruder an der Hand, einem Rucksack auf dem Rücken in stockdunkler Nacht auf einem Waldweg in unbekanntem Terrain? Bei jedem Knacken eines Astes zuckte Angst auf. Möglichst leichtfüßig einfach weitergehen, immer weiter. Nach vielen Stunden wurde eine Stadt in der Ferne sichtbar. Die Fluchthelfer sagten, das sei der Westen, man brauche nur darauf zuzulaufen und traten den Rückweg an. Stimmte das? Da stand man nun erschöpft, totmüde und ohne Geld vor einer unbekannten Stadt. Es war Duderstadt in der britischen Zone!

Mit der amtlichen Zuzugserlaubnis bekamen die Flüchtlinge auf dem Bahnhof in Duderstadt am 24. Februar 1949 kostenfreie Fahrkarten bis Oldenburg in Holstein. Ein zufällig anwesender älterer Herr im Bahnhof spendierte die Gebühr für ein Telegramm an den Vater.

Am 27. Februar 1949 erreichte meine Mutter und ihr Bruder mit ihrer Mutter Oldenburg in Holstein, wo sie nach über 5 Jahren mit dem Vater wieder zusammenfanden und ein neues Leben begannen.


**) siehe dazu: Ruth Kibelka, Ostpreußens Schicksaljahre, Aufbau Taschenbuchverlag Berlin 2000

Siehe auch diesen Bericht:  
http://genealogischenotizen.blogspot.de/2017/09/post-aus-ostpreuen-nach-einem-jahr-in.html

Ergänzung nach ersten Anfragen:
Nein, es gab keinen Speisewagen, keinen Schlafwagen und auch keine Toiletten im Zug. Ich hoffte, die Leser hätten hinreichend Vorstellungsvermögen für die damaligen Umstände! Es waren Viehwaggons. Damit mehr Menschen reinpassten und sie nicht die ganze Zeit stehen mussten, hatte man ein dürftiges Lattengerüst mit mehreren Ebenen in den Waggons installiert. In einer Ecke stand ein Blecheimer für die Notdurft.