Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Samstag, 4. März 2017

Königsberger Musikleben um 1760 - mit genealogischen Anmerkungen

>>Einer der leidenschaftlichsten Kunstfreunde war damals in Königsberg der bekannte Jurist Lestocq, der ein angesehenes Haus machte. Die meiste Zeit war sein Haus angefüllt von jungen Studierenden vom preußischen, kurländischen und liefländischen Adel, und erklang immer von Musik. Der Kriegsrath Lestocq hielt viel darauf, daß die ihm anvertraute studierende Jugend recht ernstlich Musik übte, und veranstaltete in seinem Hause fleißig kleine und größere Concerte.

Unter den damals geschätzten und wirklich verdienstvollen Tonkünstlern Königsbergs lebte ein sehr origineller alter Mann, der Organist Podbielski, der außer seinem eigentlichen Instrumente der Orgel und dem Flügel, auch die Gambe mit großer Zartheit, und in der gewichtigen, breiten Manier der damaligen französischen und italiänischen hohen Schule spielte. Sein Spiel und besonders seine Fantasien waren fast das Innigste und Berührendste, was die junge Seele unseres ganz in Musik lebenden Fritz durchdrang [der Autor schreibt über sich selbst in der 3. Person]. Podbielski gehörte zu den intimen Freunden seines Vaters, und wo er den alten etwas mürrischen Mann irgend in der Nähe seines Instruments fand, ruhte der Kleine nicht mit Bitten und Schmeicheln und Händeküssen, als bis er ihn zum Spielen brachte. Selten tat er es aber zu andern Zeiten freiwillig, als tief in der Nacht, zum Beschluß jeder andern Musik, da sein seelenvolles, oft begeisterndes Spiel denn aber auch in der heiligen Stille der Nacht und mit dem hochgespannten Gemüth ganz und innig genossen wurde.

Herr Podbielski war in den meisten alten Häusern als Lehrer und Virtuos, und eben so sehr als ein braver Mann von seltener Lebhaftigkeit und von ganz origineller trockener Laune und Geradheit angesehen und geliebt, und hatte zu den Häusern und Tafeln der damaligen Großen im Lande freien Zutritt. So hatte er den Mittag eines Tages, an welchem Abends bei dem Kriegsrath Lestocq großes Concert seyn sollte, bei dem Minister von Tettau gegessen und die gebratenen Rebhühner auf der Tafel so delicat gefunden, daß er seiner Frauen ein Paar davon nach Hause wünschte. Als man von der etwas langen Tafel aufstand, sorgte die alte freundliche Dame des Hauses dafür, daß dem Herrn Podbielski, nach damaliger treuherziger Sitte, ein Paar gebratene Rebhühner in Papier gewickelt wurden, und er steckte sie mit derselben Bereitwilligkeit in die breiten tiefen Rocktaschen seines altmodischen französischen Kleides, mit der wir jetzt ein Paar Bonbons von schönen Händen in die beiden engen Täschchen unserer modischen schmalen und kurzen Gilets vertheilen.

Eingedenk, daß er beim Kriegsrath Lestocq erwartet wurde, und daß ihm kaum noch Zeit genug bliebe, den sehr weiten Weg dahin zu machen, um zu der für sein Flügelconcert bestimmten Stunde dort anzulangen, eilte er hin, ohne sich erst seiner angenehmen Küchenbeute zu entledigen.

Als er dort in den Concertsaal trat, hatten alle Augen des weiten Damenkreises und ihrer hinter ihnen eingepferchten Männer und Anbeter, nach geendigter Symphonie lange schon nach der Thüre hingeblickt, ob Herr Podbielski nicht mit dem nothwendigen Flügelconcert erschiene, das damals bei einem ordentlichen Concert für ebenso wesentlich galt, als das Rindfleisch bei einer guten wohlgeordneten Mahlzeit. Er erschien endlich, und ward von dem französisch galanten Wirth sogleich zum Flügel geführt, sein Concert ausgelegt und angefangen. Kaum war er beim ersten Solo, als die kleinen feinen Windspiele, die damals in keinem galanten Hause fehlten, und die man eben bis dahin im offenen Nebenzimmer ruhig gehalten, der angenehmen Bratenwitterung folgten,
und unter den tief auf den Boden herabhangenden langen Rocktaschen des alten kleinen Mannes den verborgenen Schatz eifrig beschnüffelten.

Dieser ließ sich dadurch Anfangs in seiner gravitätischen Ruhe nicht stören, sondern theilte zwischen den lockern Passagen seines alten Concerts den Hunden bald rechts bald links erst einzelne Klapse in langsamen Tempo nach und nach paarweise in stets wachsender Bewegung. Als nun aber die kleinen lustigen berührigen Gäste immer unverschämter wurden, und die Klapse rechts und links schon häufiger und kräftiger fielen als die Passagen selbst, deren Lücken auch gar nicht mehr hinreichen wollten, sich ihrer Zudringlichkeit zu erwehren, riß er am Ende eines Solos beide Rebhühner ganz heroisch aus den Taschen, warf sie den lüsternen Hunden mit einem > da freßt < hin, und spielte nun ganz gravitätisch sein Concert zu Ende, ohngeachtet die an den Umschlägen zerrenden Hunde, die mit der errungenen fetten Beute den Damen unter den langen damastnen und grosditournen Schleppkleidern und hohlen Buffanten liefen, große Unruhe und Besorgnis erregten, und unter den hohlen Kleiderdächern, mit Beobachtung gehörigen Anstands, schwer hervor zu schaffen waren.<<

Zitat aus: Johann Friedrich Reichardt, Erinnerungen eines Musikers und Literaten
Aufbau-Verlag, Berlin 2002


Anmerkungen:
Johann Friedrich REICHARDT, *1752 in Königsberg, †1814 in Giebichenstein bei Halle, seit 1775 Hofkapellmeister bei König Friedrich II. von Preußen in Berlin. Von König Friedrich Wilhelm II. 1794 ohne Pension entlassen, siedelte Reichardt nach Giebichenstein bei Halle über, wo sein Gut zum Treffpunkt vieler bedeutender Künstler wurde. Von seinen großen Reisen, u.a. nach Paris, Rom, Neapel und Wien, hat der passionierte Briefschreiber eine eindrucksvolle Korrespondenz hinterlassen. Unter König Friedrich Wilhelm III. durfte er sich 1797 wieder Hofkapellmeister nennen und wurde an die Berliner Oper zurückberufen. Preußens neuer König gestattete seiner Gattin, Königin Luise, bei dem Befürworter einer Bürgerrepublik Gesangsunterricht zu nehmen.

Einen entscheidenden Einfluß gewann Immanuel Kant (1724–1804) auf den jungen Reichardt, als dieser in den Jahren um 1769-70 bei ihm an der Königsberger Universität studierte. »Dem Hrn. Prof. Kant einzig und allein verdank ichs, daß ich von meinen frühsten Jugendjahren an, nie den gewöhnlichen erniedrigenden Weg der meisten Künstler unserer Zeit betrat, und seinen akademischen Unterricht, den er mir früh, ganz aus freiem Triebe, antrug, und drey Jahre auf die aller uneigennützigste Weise gab, dank ich das frühe Glück, die Kunst von Anfang an aus ihrem wahren höhern Gesichtspunkte beachtet zu haben und nun das größere Glück, seine unsterblichen Werke mit Gewinn studiren zu können«, schrieb Reichard später – im Musikalischen Kunstmagazin 1791 – über diese bedeutsame Zeit. Und Kant selbst meinte bescheiden in einem Brief vom Oktober 1790 an seinen einstigen Schüler: „Meine geringen Bemühungen im ersten philosophischen Unterrichte, welchen Sie bei mir genommen haben, wenn ich mir schmeicheln darf, dass sie zu der jetzigen rühmlichen Entwicklung Ihrer Talente etwas beigetragen haben, belohnen sich von selbst.

Reichardt war zweimal verheiratet. Seine erste Frau Juliane Benda war die Tochter des Komponisten und Kapellmeisters Franz Benda und eine bekannte Sängerin. Das Paar hatte zwei Söhne und zwei Töchter. Nachdem seine erste Frau im Kindbett gestorben war, heiratete er 1783 Johanna Alberti (1755–1827). Sie war die Tochter des Diakons und Dichters Julius Gustav Alberti (1723–1772) aus Hannover. Es war auch die zweite Ehe seiner Frau, die in erster Ehe mit dem Juristen und Dichter Peter Wilhelm Hensler (1742–1779) verheiratet war und einen Sohn und zwei Töchter mit in die Ehe brachte. In der 2. Ehe wurden ihm fünf Kinder geboren.

Goethe hat ihm bescheinigt, erst er sei es gewesen, „der mit Ernst und Stetigkeit meine lyrischen Arbeiten durch Musik ins Allgemeine förderte“. Der Komponist und Schriftsteller hat zahlreiche Gedichte von Goethe vertont, ferner die Liedeinlagen im „Wilhelm Meister“ sowie eine Orchestermusik zum „Egmont“ komponiert. Reichardt hatte großen Erfolg in Berlin mit Singspielen nach Libretti von Goethe.
~   ~   ~   ~   ~

Johann Ludwig (von) L´ESTOCQ, *1712 in Absinthkeim bei Königsberg, †1779 in Königsberg, Jurist, Professor der Rechte an der Albertina, Kriegsrat.
L´Estocq war Ehrenmitglied der Königlichen Deutschen Gesellschaft - eine Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache, die auf den Leipziger Literaturprofessor Johann Christoph Gottsched zurückgeht, der im Jahre 1700 in Juditten bei Königsberg geboren wurde. Indem L´Estocq 1745 Maria Eleonora Hintzin, Witwe des Buchdruckers Johann Friedrich Reußner († 22. Dezember 1742), heiratete, kam er in den Besitz der Reußnerischen Buchdruckerei, die er bis 1750 behielt. 1750 stieg er in die vierte Professur auf, war 1751 dritter Professor und zugleich Oberrichter der Stadt Königsberg. 1764 übernahm er die zweite ordentliche Professur der Rechte und wurde im Jahr 1771 erster Professor und 1778 Kanzler der Königsberger Albertina. Neben seiner Professur beteiligte er sich auch an organisatorischen Aufgaben der Königsberger Universität. Er war einige Jahre Rektor und Prorektor derselben.
~   ~   ~   ~   ~

Aus der Familie PODBIELSKI stammten einige in Königsberg stadtbekannte Musiker und Organisten:
Jacob 1650 – 1709, Organist an der Schloßkirche, an der Löbenichtschen und der Altstädtischen Kirche

Christian 1683 – 1753, Organist an der Löbenichtschen Kirche, am Dom, spielte meisterhaft auf dem Flügel und der Gambe, komponierte auch weltliche Musik

Gottfried 1689 – 1763, Organist an der Altstädtischen Kirche, am Dom

Christian Wilhelm 1741 – 1792, Domorganist, komponierte Sonaten in der Art von C.Ph.E. Bach, gab Klavierkonzerte in Privathäusern und Musikunterricht; einer seiner Schüler war E.T.A. Hoffmann

In der oben zitierten Geschichte kann also nur Gottfried Podbielski gemeint sein, den Johann Gottfried Reichardt in seiner Kindheit und Jugend noch erlebt hat.
~   ~   ~   ~   ~

Der Sohn des Philosophen, Schriftstellers und Kantfreundes Johann Georg HAMANN (1730-88), der Rektor des Altstädtischen Gymnsasiums Johann Michael HAMANN (1769- 1813) war mit Caroline Amalie PODBIELSKI (1770-1812) verheiratet, einer Tochter von Christian Wilhelm PODBIELSKI. Außerdem war Johann Georg Hamann wiederum eng befreundet mit Johann Friedrich Reichardt.

Ein Sohn aus der Ehe des Joh. Michael Hamann mit Caroline Amalie Podbielski war Friedrich Otto Hamann (1802-61), der später als Direktor des Friedrichsgymnasiums in Gumbinnen wirkte.

Eine andere PODBIELSKI-Tochter war mit einem Königsberger Kunst- und Miniaturmaler verehelicht: Anton Reich (1700-64) - dessen Schwiegersohn Ernst Gottlieb Falck (1731-91), ein Prediger der reformierten Gemeinde, stammte aus einer Danziger Familie von Kupferstechern und Goldschmieden. Die Urgroßmutter Ernst Gottlieb Falcks war eine geborene MERCATOR und Enkelin des berühmten Duisburger Kartographen Gerhard MERCATOR (1512-94).

Johann Daniel Falck
Johann Daniel FALCK (1768 -1826), auch ein bedeutender Sohn aus dieser Danziger Familie, lebte seit 1797 als 'privatisierender Gelehrter' und Dichter in Weimar. Er rettete im Oktober 1806 die Stadt Weimar vor der Zerstörung und Plünderung durch die Franzosen, wofür er zum Legationsrat ernannt wurde. Durch seine Mutter, einer geborenen Chailloux, sprach er gewandt französisch und trat den napoleonischen Invasoren ebenso beherzt wie wirkungsvoll entgegen. Außerdem war er der Schöpfer des Weihnachtsliedes "Oh du fröhliche". Nach der Franzosenzeit wendete er sich den vielen durch den Krieg verwaisten Kindern zu und gründete 1813 die Stiftung der "Gesellschaft der Freunde in Not" und ein Heim für Kinder.

Der Großvater der Constantia Chailloux, Mutter des obengenannten Falck, kam als hugenottischer Réfugié über Genf nach Berlin. Jean Chaillou(x) (1670-1723) wurde in der Berliner Residenz churfürstlicher und ab 1701, nach der spektakulären Königsberger Krönung seines royalen Auftraggebers, auch königlicher Kapellmeister – somit ein Vorgänger Reichardts beim Großvater des Großen Friedrich.

© Viktor H. Haupt