Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Montag, 27. Oktober 2008

Frauengeschichte(n) 1770

Einige Generationen und Jahrhunderte später ereignet sich in der gleichen Familie und am gleichen Ort eine ziemlich heikle Geschichte (siehe auch Frauengeschichte-n 1549). Wir befinden uns in der Regierungszeit von König Friedrich II. von Preußen um das Jahr 1770. Die Familie SCHWEICHLER hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre in verschiedenen Linien über Ostpreußen verbreitet. Man erkennt aber leicht, von wo sie ursprünglich herstammen, denn im süd-östlichen Samland taucht der Name SCHWEICHLER häufiger auf. Im Kirchspiel Heiligenwalde entlang des nördlichen Pregelufers gibt es sie in Kalkeim, in Schönwiese, in Pogauen und in anderen Orten. Gegenüber auf der südlichen Pregelseite liegen die ausgedehnten Ländereien der Döhnhoffs mit Sitz auf Schloss Friedrichstein. Ein Zweig der Schweichler-Linie hat sich weiter nördlich in Sensseln im Kirchspiel Caymen etabliert, eine eng verwandte Linie sitzt in Damerau bei Schaaken.

Springen wir zurück auf das Kalkeimer Gut (nach heutigem Maß etwas über 100 Hektar umfassend), den Familienstammsitz seit 1542 und in die unmittelbare Nachbarschaft auf das kleinere Gut Schönwiese. Ausgangspunkt der Geschichte und meiner Recherchen war eine seltsame Anmerkung im Heiratsverzeichnis des Kirchenbuchs Heiligenwalde 1772:
>>Auf speciellen Befehl sr. Königl. Mai. de dato Berlin vom 14. Jan. 1772 mit seiner Vatern Bruder Frau Anna Regina einer verwittweten Johann Heinrich Schweichlerin, einer gebohrenen Neumannin d. 27. Feb. copulirt worden, nachdem der Process 6 Jahre lang mit vielen Kosten bestritten worden.<<

Die dahinterstehenden Daten sehen folgendermaßen aus:
1755 heiratet Johann Heinrich Schweichler (Schönwiese *06.02.1716) Anna Regina Neumann, eine schöne Nachbarstochter aus Kalkeim. Dieser Johann Heinrich Schweichler auf Schönwiese hat einen Neffen gleichen Vor- und Familiennamens in Kalkeim, welcher sich nach dem Tode seines Onkels seiner verwitweten Tante annimmt und jenen oben erwähnten "Process" führt, wo es um die Heiratserlaubnis geht. Nach geltendem Kirchenrecht wird eine solche Verbindung als Blutschande eingestuft und (zunächst) nicht erlaubt. Aus der Zuwendung zu seiner Tante entsprang ein Kind, welches erst nach diesem jahrewährenden "Process" durch die endlich erlaubte Heirat mit der Mutter "ehrlich gemacht" werden konnte. Nach der Eheschließung folgten noch weitere Kinder.

Ich fand die Geschichte so spannend, daß ich im Berliner Staatsarchiv lange nach den Gerichtsakten suchte. Ich dachte mir, so ein Fall muß doch nachhaltig aktenkundig geworden sein und irgendwo, sei es in Königsberg oder Berlin oder beiderorts, seinerzeit die Behörden beschäftigt und viel Schreiberei ausgelöst haben.

Zunächst fand ich in den für diese Region zuständigen Abteilungen nichts (Etatsministerium Kammeramt Waldau). Erst als ich ein halbes Jahr später wegen anderer Geschichten in einem Etatsministerium-Findbuch zum Amt Neuhausen blätterte, stieß ich auf einen interessanten Aktentitel:
>>Anna Regina Schweichler ./. Pfarrer Grünmüller zu Heiligenwalde wegen Vorenthaltung der Sacra 1770<<. Die Akte habe ich mir sofort zur Einsicht angefordert und fand zwar nicht den Prozeß um die Heiratserlaubnis, aber folgende Schreiben:

>> Allerdurchlauchtigster Großmächstigster König, Allergnädigster König und Herr ! Ewr: Königl: Majestaet muß ich allergehorsahmst vorstellen wie der Pfarrer Grünmüller zu Heiligenwalde mich alles meines Bittens und Vorstellens ohngeachtet nicht ad Sacra admittiren will, so daß ich mehr als ein gantzes Jahr durch desselben entbehren müssen (gemeint ist die Teilnahme am heiligen Abendmahl).
Wenn nun diese seine Weigerung eintzig und allein daher rühret, daß ich per judicata E:Königl:Brandenburgisch-Neuhausischen Justitz-Collegii für mein Vergehen mit dem Johann Heinrich Schweichler bestrafet worden, so zeiget doch eben dieses in copia angelegte Urtheil, daß ich demselben plenarie satisfaciret habe, hinfolglich auch diese Sache dergestalt abgethan, daß ich eben so wenig bey denen weltlichen Gerüchten für ein verbüssetes Verbrechen noch leiden, als von dem Prediger aus der Gemeinde ausgeschlossen seyn darf, durch welches unerlaubte Betragen er mich würklich in der Gemeinde zu einem Anstoß machet und mich in die allergrößte Bekümmerniß setzet. Ich muß hiebey nur den besondren Umstand anführen, daß Pfarrer Grünmüller alles anwendet, um mich zu einer anderweiten Heyrath zu bewegen, um wie er vorgibt, nur alle Neigungen gegen den in judicatis benannten Schweigler zu vertreiben, allein geschweige, daß ich hierin um einen gantz freyen Willen habe und nimmer mehr mich dazu entschliessen kann, so ist Pfarrer auch nicht im Stande mir jetzo mehr etwas strafbahres über diesen Punct nachzusagen und dahero verlange ich auch mit allem Rechte nicht als einen Gegenstand des Anstoßes und der Ärgerniß gehandelt zu werden.
Diesen Umständen nach werden Erw: Königl. Majestaet geruhen dem Pfarrer Grünmüller per Mandatum die geschärfte Aufgabe zu thun, mich ohne ferneres Weigern ad Sacra anzunehmen und nach denen Pflichten eines rechtschaffenen Seel-Sorgers auch für das beste meiner Seele die gehörige Sorgfalt zu tragen, die ich mich einer huldreichen Erhörung zuversichtlich getröste und in tiefster Devotion ersterbe
Erw: Königl: Majestaet
allerunterthänigst Iren gehorsahmste
Anna Regina Schweiglerin, gebohrene Neumannin / Christoph Ludwig Hofmann, Jud: Hoff Adv. <<

In der Akte fand sich auch das im obigen Text erwähnte Urtheil beigefügt:

In peinlichen Sachen wieder die verwittibte Cöllmerin Anna Regina Schweiglerin gebohrne Neumannin, und dem Johann Heinrich Schweigler Bluttschande betreffend, erkennet E: Königl: Preußisch Brand: Neuhausisches Justiz-Collegium für Recht:
Alldieweilen beyde Theile nicht leugnen mögen, daß ohnerachtet sie von ihrem Beicht-Vater dem Pfarrer Grünmüller in Heiligenwalde belehret worden, wie nach Innhalt der heiligen Schrift eine Heyrath zwischen des Vater-Bruder Frau verbothen, ihnen indessen frey stünde derhalb Dispensation zu suchen; und ob wohl E: Königl: Regierung diese gesuchte Concession per Rescriptum vom 4ten April 1766 gäntzlich abgeschlagen Sie sich dennoch gelüsten laßen unterm Vorwande einander bey der Wirthschaft zu assistiren, sich zusammen zu betten und in eine Blut Schande zu begehen, aus welchem Incesta sie einen Sohn erzeuget, der jetzo ins 3te Jahr gehet. Und ob wohl Sie vorgeben wollen daß diese Incestus lediglich unter Hofnung der erhaltenen Concession zur Heyrath geschehen, maaßen ihnen so wohl von ihrem hiesigen Mandatario als von Hof-Fiscal Meyer in Berlin die Versicherung gegeben worden, daß bisweilen und in dergleichen Fällen Dispensation erfolget, ihnen dieses demnach zu keiner hinlänglichen Entschuldigung gereichen kann, da Sie erst die gesuchte Dispensation abwarten sollen, und müssen; Als haben beyde Theile hieran höchst Unrecht und strafbahr gehandelt, und sollen dahero diese ihre Begünstigung ihnen zur wohlverdienten Straffe und Besserung andern Gottlosen Leuthen aber zur Warnung und Abscheu, jedoch in ansehung ob angeführter Umstände, und bezeugter Reue, und weil Sie durch eine Leibes-Straffe als Cöllmerin ihrer Wirthschafft sehr gestöhret werden würde, jeder mit 50 fl. Strafe ad Fiscum verbüssen, die Defension-Gebührn des Referendarii Wattmann a 6 fl. 15 gr. welche Anna Regina zu bezahlen hat, werden bestätiget. Die Unkosten und Urtheils-Gebühren imgleichen daß circa exeracutionem beyzulegenden Stempel-Papier a 16 fl. 7Gr haben beyde Theile zur Helfte zu bezahlen.
vKeith, Hahn, Machenau, DörfferCopia Friedrich König in Preußen cc

Unsern cc (Kurzformel: Unsern lieben Getreuen) Wir remittiren euch im Anschluß die zur Justification an unser Hof-Gericht von euch eingesandte Acta-Criminalia in Sachen Anna Regina und Johann Heinrich Schweichler, wegen begangener Blutt-Schande, jeglichem zuerkandte 50 fl. Fiscalische Strafe und die Bezahlung der Kosten betreffend und erkennen darauf hiemit Justificando für Recht, daß nach Gestalt und Gelegenheit der Sache wohlgesprochen, doch dergestalt daß den Inquisiten frey stehen soll zu wählen, ob Sie ein jeglicher derselben entweder die gefundenen 50 fl. ad Fiscum erlegen, oder aber eine halbjährige Zucht Hauß-Straffe ausstehen wolle; Im Fall nun Inquisitin die Leibes Stafe Sich wählen sollten, so habt ihr dieserhalb einzuberichten; damit auch die zur Annahme der Inquisiten ins Zucht Hauß erforderliche Ordre an den Königsbergschen Magistrat übermachet werden könne.
Pro Justificatoria ist ein rthlr zu entrichten, deßen Eingang von Euch nebst 5 g Ausfertigungs-Kosten des fordersahmsten zu besorgen ist; demnach habt ihr die Verfügung zu thun, damit hierunter justificirter maaßen verfahren werde. Sind euch mit gnaden gewogen.
Königsberg den 9ten Februarii 1770 vKorff

100 fl. Fiscalische Strafe
17 fl 15g Sportuln des just.Colleg:
4 fl 29 g Hoffger: Sportuln
= 122 fl. 14 g Sum:
+ 16g pro mundo der Urteile
= 123 fl (Gulden)
in der Schweiglerschen Criminal-Sache sind ad Cassam des Königl: Brandenbg. Neuhausischen JustitzCollegio in dato richtig entrichtet worden, worüber gebührend quittiret.
Königsberg 16- Maertz 1770 Wochaetius, Registrator.

In diesem speziellen Fall allerdings waren die Beteiligten (alles sogn. cöllmische Gutsbesitzer, d.h. Freibauern mit vollem Eigentumsrecht) nicht arm und konnten sich Advocaten und Gerichtskosten leisten. Die Tante mußte deswegen nicht ins Zuchthaus, wie man aus der oben quittierten Zahlung rückschließen kann . Man pflegte in Kalkeim und in der Nachbarschaft einen individuelleren Lebensstil und Regina Neumann klagt selbstbewußt und erfolgreich gegen das rigide Vorgehen des Pfarrers. Dieser imponierende Stolz und Eigensinn hatte bereits "Tradition" und zeigt sich schon in Klagen der Pfarrer im 16. + 17.Jh., daß die Kalkeimer Gutsbesitzer zu hoffärtiger, unstandesgemäßer Kleidung neigten. Sie werden des öfteren deswegen mit Kirchenbußen belegt. Man zahlt wohl und amüsiert sich trotzdem wie man will. Man scheute sich auch schon früher nicht, notfalls sein Recht mit teuren Königsberger Advocaten vor den Hofgerichten zu erstreiten. Ich fand div. Acta (1613, 1697), in denen aufwändige Prozesse wegen Grenzstreitigkeiten geführt wurden. Dadurch erschließen sich mir heutzutage sehr lebendig die damaligen Lebensumstände. - Aber das gehört schon in eine andere Geschichte: siehe Grenzstreitigkeiten in einem ostpreussischen Dorf -

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