Ahnenforschung in Ostpreussen - politisch korrekt? Eine Polemik
Gelegentlich plaudere ich in heiterer Stimmung bei einem Bier mit netten, klugen und zeitkritischen Bekannten auch über meine Leidenschaft „Familienforschung“. Aus gewissen Erfahrungen meide ich bewußt „belastete“ Worte wie „Ahnenforschung“. Ich berichte vielleicht über meine letzten Entdeckungen im Staatsarchiv aus der Zeit Herzog Albrechts. Es wird gelegentlich interessiert zwischengefragt, ich erläutere die Zusammenhänge. Man bewundert meine Sachkenntnis ein wenig und staunt über die Möglichkeiten, familiäre Lebensumstände so weit zurückverfolgen zu können. Darf denn jeder ins Archiv und forschen? Ja, sage ich und erzähle, wie man das macht.
Aber oft kippt die Stimmung an dem Punkt, wenn endlich allen Beteiligten klar geworden ist, welcher Herzog Albrecht*) in meinen Forschungen gemeint ist; wenn klar ist, daß es hier um das alte Ordensland Preußen, das spätere Ostpreußen geht. Es kommt zu gezielteren Zwischenfragen: ja, alle meine Vorfahren stammen aus Ostpreußen; ja, meine Eltern sind noch dort geboren; ja, sie haben alle die Flucht so ähnlich wie in dem Film mit der Gräfin **) erlebt, ja, ja, ja!
Ja, und warum machst du das, warum forscht du da noch rum? Das ist doch jetzt Russland, oder nicht? Oder Polen? Willst du da wieder hin zurück? Willst Du Rückerstattungsansprüche stellen (-mißbilligender Unterton-)? Moment mal, haben nicht alle diese Flüchtlinge nach dem Krieg wahnsinnig viel Geld gekriegt als Abfindung? Unsere Eltern haben doch noch bis in die 70er Jahre in diese Lastenausgleichskasse für die Flüchtlinge zahlen müssen! Bist du verrückt, was willst Du denn noch? Gehst du auch zu diesen Vertriebenenversammlungen? War da nicht neulich was in der Zeitung, daß die vom Verfassungsschutz wegen rechtsradikaler Bezüge durchsucht wurden? War das nicht so damals, daß die Ostpreußen mit überwältigender Mehrheit den Hitler gewählt haben? Und überhaupt diese ostelbischen Junker, waren das nicht alles ganz ultrarechte Militaristen?
Fassungslos stehe ich nun da, sozusagen argumentativ in eine Ecke gedrängt, die ich nicht im mindesten angesteuert hatte und muß nun zusehen, wie ich da wieder herauskomme. Und alles bloß wegen Herzog Albrecht! Ich stehe unter Rechtfertigungszwang. Meine Gesinnung ist verdächtig. Egal was ich jetzt sage, es wird gegen mich verwendet werden. Denn man rechnet sich ja zur kritisch intellektuellen, selbst denkenden, ganz wachen Schicht von Mitbürgern, die sich nichts vormachen läßt. Ich sehe mich ansonsten netten, klugen, zeitkritischen Altersgenossen gegenüber, die sich herausgefordert fühlen, mir zu beweisen, wie politisch unkorrekt mein ach so harmloses Hobby doch wäre, wenn sie plötzlich begreifen, auf welche Region ich mich beziehe. Wenn man es gut mit mir meint, versucht man mich zu warnen, daß ich mich auf gefährliches Terrain begebe. Wenn man es weniger gut meint, dann kommt gleich der unheilvolle Generalverdacht zur Sprache: Revanchist, Neonazi!
Oft habe ich in solche Situationen versucht zu beschwichtigen. Quatsch, wie kommt ihr denn auf so etwas. Nein, ich habe nicht vor, irgendwo oder gegen irgendwen Ansprüche zu stellen. Nein, ich will nicht nach Ostpreußen, Entschuldigung: Kaliningradskaja Oblast. Ich gehe nicht zu Vertriebenenversammlungen. Ich singe nicht alle Strophen des Deutschlandliedes. Nein, ich bin kein Nazi! Ich interessiere mich nur für meine familiären Wurzeln!
Mittlerweile macht mich so ein Gesprächsverlauf einfach nur wütend. Warum, verdammt noch mal, muß ich mich dafür rechtfertigen, daß meine Vorfahren aus Ostpreußen stammen? Warum darf ich mich nicht „ganz harmlos“ für meine Wurzeln interessieren? Warum stellt mich allein die Herkunft meiner Eltern und Großeltern unter Generalverdacht? Ich frage mich aufgebracht, was läuft hier ab? Was bewegt sonst ganz umgängliche, nette, kluge Menschen dazu, auf solche Weise zu reagieren, wild zu assoziieren und zu spekulieren?
Jeder gewöhnliche Holsteiner, Bayer oder Badenser, jeder Hesse, Sachse oder Westfale kann seine Heimatverbundenheit pflegen, in der Vergangenheit forschen, seine Wurzeln bis zum Rattenfänger von Hameln oder Martin Luther verfolgen. Bei interessanten Ergebnissen gäbe es wohlwollende Berichte im nächsten Regionalblatt, vielleicht würde ein Verein gegründet oder irgendwo eine Ausstellung organisiert. Alles in bester Ordnung. Alle freuen sich. Aber Ostpreußen oder was es da sonst noch alles für Gebiete jenseits heutiger Grenzen gibt – gefährlich! Warum?
Nun thematisiere ich gelegentlich mit gescheiten Zeitgenossen mutig meine oben geschilderten Erlebnisse, mein Empfinden von subtiler Diskriminierung und konfrontiere meine Gesprächspartner damit. Brüske Zurückweisung, Unverständnis, absolutes Negieren der Möglichkeit solch eines Geschehens. Ich bilde mir doch da was ein! Da gibt es nun ständig irgend welche Filme über die Ostgebiete, Vertriebenenaustellungen, ein Zentrum soll in Berlin gebaut werden, Millionen von Steuergeldern fließen in die Richtung und ich will mich über Diskriminierung beschweren? Das ist doch wohl ziemlicher Blödsinn! Ja, eine hübsche Idee, der Vergleich mit der Heimatbezogenheit in den deutschen Landen. Aber schuhplattelnde Bayern, Komödienstadl oder teebeutelschwingende Ostfriesen und das Ohnsorg-Theater wären doch wirklich etwas anderes als hoffentlich bald aussterbende Ostpreussen, die sich zäh und renitent immer noch zu suspekten Vertriebenentreffen zusammenrotten und den Frieden in Europa stören.
Ich kann nur noch verzweifelt die Flucht ergreifen ob solcher schwer verdaulichen Unterstellungen. Ach, wie war das? Hat da jemand "Flucht" gesagt? Dann sind wir ja mitten im Familientrauma angekommen! Dann rekapitulieren wir doch noch einmal schnell den so gründlich verdrängten und verleugneten Opferstatus: die Mutter und Großmutter, die nach dreieinhalb Jahren Zwangsarbeit in Ostpreußen endlich auf Stalins Order 1948 in seine weiter im Westen liegende deutsche Kolonie verschoben wurden, um von dort unter abenteuerlichen Umständen in die britische Zone weiterzuflüchten. So trafen sie denn im Frühjahr 1949 im britischen Holstein ein, trafen nach vielen Jahren mit dem Großvater dort wieder zusammen und begannen ein neues Leben. Ein Leben in lagerähnlichen Barracken und Notunterkünften, aus denen meine Mutter entfloh, indem sie für Kost und Logis und ein Taschengeld in Stellung ging. Eine ordentliche Ausbildung wurde ihr verwehrt, einen Flüchtling wollte man nicht als Lehrmädchen. Die sollten billiger zu haben sein. Die väterliche Verwandtschaft schien es besser getroffen zu haben, sie waren schon im April 1945 in Holstein gelandet – mit Kollateralschäden. Die Großmutter unterwegs während eines Fliegerangriffs verschollen, den kriegsverletzten Großvater in Danzig einem Militärtransport überantwortet mit unbekanntem Verbleib. Unter den Kindern mein Vater, sie schlagen sich durch mit Hilfsarbeiten bei holsteinischen Bauern, weil es dort zumindest etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf gibt und leben von der Substanz: die wenigen geretteten Dinge von Wert auf dem Flüchtlingswagen werden nach und nach von dem einen oder dem anderen der Geschwisterschar in Geld oder notwendig gebrauchte Dinge umgesetzt. Zuletzt die beiden Trakehnerpferde. Die jüngsten Geschwister wuchsen aus der abgetragenen Kleidung heraus, im Winter fehlte es an Schuhen und die Schulsachen mußten bezahlt werden. Die älteren Schwestern suchten früh nach Halt in nicht immer haltenden Beziehungen. Aber alle, die sich tausend Kilometer nach Westen durchgeschlagen hatten oder nach Jahren der Ungewißheit endlich aus dem Osten ausgewiesen wurden und sich endlich gerettet glaubten, erlebten immer wieder das gleiche: fassungslose Gleichgültigkeit bis feindseeliger Haß. Was stört ihr hier unsere Kreise? Dreckiges verlaustes Pack, geht doch dahin zurück, wo ihr herkommt! Was wollt ihr alle hier? Diebe, Gesindel! Warum seid ihr nicht auf euren ach so großen Gütern geblieben? Die spinnen doch alle, die Ostpreußen, alle waren sie große Herren und Gutsbesitzer. Nichts als Bettler und Schmarotzer! - Im besten Geschäft einer holsteinischen Kleinstadt stand ein Schild im Schaufenster: Für Flüchtlinge Zutritt verboten! Und immer wieder Rechtfertigungsnöte: Warum habt ihr euch alles wegnehmen lassen? Wieso habt ihr euch nicht anständig gewehrt? Selber Schuld!
Zeitsprung: ca. 15 Jahre später. Der Erstgeborene wächst bei kriegstraumatisierten Eltern heran. Einladung zum Geburtstag bei Schulkameraden. Großes Haus, in der Halle hängen goldgerahmte Herrschaften, eine wilde Horde gleichaltriger Kinder, die an jenem Tag alles darf. Tortenbüffet, lustige Spielchen mit Geschenken für alle. Die erwachsene Verwandtschaft des Geburtstagskindes hat sich in Salons zurückgezogen, in die ich aus Versehen beim Suchen nach den anderen gerate. Freundliches Entgegenkommen, wer ich denn sei, wie denn mein Vater heiße, wie bitte – noch einmal. Ach, der ist aber nicht von hier, oder? Ich werde zu den anderen Kindern geleitet und darf weiter mitspielen. Aber nun bin ich erkannt, man achtet darauf, daß da keine zu tiefen Freundschaften zu mir aufkommen, daß die Distanz gewahrt bleibt. Dieses gewisse Gefühl jener Situation begegnet mir in vielen Variationen und es verfolgt mich zwanghaft. Alle sind nett zu mir, solange ich akzeptiere, daß ich nicht wirklich dazugehöre, daß es da immer eine unsichtbare Trennlinie geben wird. - Andere Kinder haben Verwandtschaft, ich habe nur die Eltern. Die eigene Verwandtschaft ist ziemlich ausgedünnt irgendwo in Deutschland verstreut. Meine Eltern arbeiten fleißig, gehen ganz auf im hier und jetzt, vermeiden gründlich jegliche Bezugnahme zu Vergangenem. Politik von Brandt wird gutgeheißen, Vertriebenenverbände werden als ewiggestrig eingestuft, da gehen nur die Großeltern vielleicht noch hin. Die Eltern begreifen sich als fortschrittlich, wollen nicht auffallen, wollen ihren Platz in der Gesellschaft finden und glauben, ihn sich durch Leistung und besondere Pflichterfüllung erkaufen zu können.
Aber oft kippt die Stimmung an dem Punkt, wenn endlich allen Beteiligten klar geworden ist, welcher Herzog Albrecht*) in meinen Forschungen gemeint ist; wenn klar ist, daß es hier um das alte Ordensland Preußen, das spätere Ostpreußen geht. Es kommt zu gezielteren Zwischenfragen: ja, alle meine Vorfahren stammen aus Ostpreußen; ja, meine Eltern sind noch dort geboren; ja, sie haben alle die Flucht so ähnlich wie in dem Film mit der Gräfin **) erlebt, ja, ja, ja!
Ja, und warum machst du das, warum forscht du da noch rum? Das ist doch jetzt Russland, oder nicht? Oder Polen? Willst du da wieder hin zurück? Willst Du Rückerstattungsansprüche stellen (-mißbilligender Unterton-)? Moment mal, haben nicht alle diese Flüchtlinge nach dem Krieg wahnsinnig viel Geld gekriegt als Abfindung? Unsere Eltern haben doch noch bis in die 70er Jahre in diese Lastenausgleichskasse für die Flüchtlinge zahlen müssen! Bist du verrückt, was willst Du denn noch? Gehst du auch zu diesen Vertriebenenversammlungen? War da nicht neulich was in der Zeitung, daß die vom Verfassungsschutz wegen rechtsradikaler Bezüge durchsucht wurden? War das nicht so damals, daß die Ostpreußen mit überwältigender Mehrheit den Hitler gewählt haben? Und überhaupt diese ostelbischen Junker, waren das nicht alles ganz ultrarechte Militaristen?
Fassungslos stehe ich nun da, sozusagen argumentativ in eine Ecke gedrängt, die ich nicht im mindesten angesteuert hatte und muß nun zusehen, wie ich da wieder herauskomme. Und alles bloß wegen Herzog Albrecht! Ich stehe unter Rechtfertigungszwang. Meine Gesinnung ist verdächtig. Egal was ich jetzt sage, es wird gegen mich verwendet werden. Denn man rechnet sich ja zur kritisch intellektuellen, selbst denkenden, ganz wachen Schicht von Mitbürgern, die sich nichts vormachen läßt. Ich sehe mich ansonsten netten, klugen, zeitkritischen Altersgenossen gegenüber, die sich herausgefordert fühlen, mir zu beweisen, wie politisch unkorrekt mein ach so harmloses Hobby doch wäre, wenn sie plötzlich begreifen, auf welche Region ich mich beziehe. Wenn man es gut mit mir meint, versucht man mich zu warnen, daß ich mich auf gefährliches Terrain begebe. Wenn man es weniger gut meint, dann kommt gleich der unheilvolle Generalverdacht zur Sprache: Revanchist, Neonazi!
Oft habe ich in solche Situationen versucht zu beschwichtigen. Quatsch, wie kommt ihr denn auf so etwas. Nein, ich habe nicht vor, irgendwo oder gegen irgendwen Ansprüche zu stellen. Nein, ich will nicht nach Ostpreußen, Entschuldigung: Kaliningradskaja Oblast. Ich gehe nicht zu Vertriebenenversammlungen. Ich singe nicht alle Strophen des Deutschlandliedes. Nein, ich bin kein Nazi! Ich interessiere mich nur für meine familiären Wurzeln!
Mittlerweile macht mich so ein Gesprächsverlauf einfach nur wütend. Warum, verdammt noch mal, muß ich mich dafür rechtfertigen, daß meine Vorfahren aus Ostpreußen stammen? Warum darf ich mich nicht „ganz harmlos“ für meine Wurzeln interessieren? Warum stellt mich allein die Herkunft meiner Eltern und Großeltern unter Generalverdacht? Ich frage mich aufgebracht, was läuft hier ab? Was bewegt sonst ganz umgängliche, nette, kluge Menschen dazu, auf solche Weise zu reagieren, wild zu assoziieren und zu spekulieren?
Jeder gewöhnliche Holsteiner, Bayer oder Badenser, jeder Hesse, Sachse oder Westfale kann seine Heimatverbundenheit pflegen, in der Vergangenheit forschen, seine Wurzeln bis zum Rattenfänger von Hameln oder Martin Luther verfolgen. Bei interessanten Ergebnissen gäbe es wohlwollende Berichte im nächsten Regionalblatt, vielleicht würde ein Verein gegründet oder irgendwo eine Ausstellung organisiert. Alles in bester Ordnung. Alle freuen sich. Aber Ostpreußen oder was es da sonst noch alles für Gebiete jenseits heutiger Grenzen gibt – gefährlich! Warum?
Nun thematisiere ich gelegentlich mit gescheiten Zeitgenossen mutig meine oben geschilderten Erlebnisse, mein Empfinden von subtiler Diskriminierung und konfrontiere meine Gesprächspartner damit. Brüske Zurückweisung, Unverständnis, absolutes Negieren der Möglichkeit solch eines Geschehens. Ich bilde mir doch da was ein! Da gibt es nun ständig irgend welche Filme über die Ostgebiete, Vertriebenenaustellungen, ein Zentrum soll in Berlin gebaut werden, Millionen von Steuergeldern fließen in die Richtung und ich will mich über Diskriminierung beschweren? Das ist doch wohl ziemlicher Blödsinn! Ja, eine hübsche Idee, der Vergleich mit der Heimatbezogenheit in den deutschen Landen. Aber schuhplattelnde Bayern, Komödienstadl oder teebeutelschwingende Ostfriesen und das Ohnsorg-Theater wären doch wirklich etwas anderes als hoffentlich bald aussterbende Ostpreussen, die sich zäh und renitent immer noch zu suspekten Vertriebenentreffen zusammenrotten und den Frieden in Europa stören.
Ich kann nur noch verzweifelt die Flucht ergreifen ob solcher schwer verdaulichen Unterstellungen. Ach, wie war das? Hat da jemand "Flucht" gesagt? Dann sind wir ja mitten im Familientrauma angekommen! Dann rekapitulieren wir doch noch einmal schnell den so gründlich verdrängten und verleugneten Opferstatus: die Mutter und Großmutter, die nach dreieinhalb Jahren Zwangsarbeit in Ostpreußen endlich auf Stalins Order 1948 in seine weiter im Westen liegende deutsche Kolonie verschoben wurden, um von dort unter abenteuerlichen Umständen in die britische Zone weiterzuflüchten. So trafen sie denn im Frühjahr 1949 im britischen Holstein ein, trafen nach vielen Jahren mit dem Großvater dort wieder zusammen und begannen ein neues Leben. Ein Leben in lagerähnlichen Barracken und Notunterkünften, aus denen meine Mutter entfloh, indem sie für Kost und Logis und ein Taschengeld in Stellung ging. Eine ordentliche Ausbildung wurde ihr verwehrt, einen Flüchtling wollte man nicht als Lehrmädchen. Die sollten billiger zu haben sein. Die väterliche Verwandtschaft schien es besser getroffen zu haben, sie waren schon im April 1945 in Holstein gelandet – mit Kollateralschäden. Die Großmutter unterwegs während eines Fliegerangriffs verschollen, den kriegsverletzten Großvater in Danzig einem Militärtransport überantwortet mit unbekanntem Verbleib. Unter den Kindern mein Vater, sie schlagen sich durch mit Hilfsarbeiten bei holsteinischen Bauern, weil es dort zumindest etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf gibt und leben von der Substanz: die wenigen geretteten Dinge von Wert auf dem Flüchtlingswagen werden nach und nach von dem einen oder dem anderen der Geschwisterschar in Geld oder notwendig gebrauchte Dinge umgesetzt. Zuletzt die beiden Trakehnerpferde. Die jüngsten Geschwister wuchsen aus der abgetragenen Kleidung heraus, im Winter fehlte es an Schuhen und die Schulsachen mußten bezahlt werden. Die älteren Schwestern suchten früh nach Halt in nicht immer haltenden Beziehungen. Aber alle, die sich tausend Kilometer nach Westen durchgeschlagen hatten oder nach Jahren der Ungewißheit endlich aus dem Osten ausgewiesen wurden und sich endlich gerettet glaubten, erlebten immer wieder das gleiche: fassungslose Gleichgültigkeit bis feindseeliger Haß. Was stört ihr hier unsere Kreise? Dreckiges verlaustes Pack, geht doch dahin zurück, wo ihr herkommt! Was wollt ihr alle hier? Diebe, Gesindel! Warum seid ihr nicht auf euren ach so großen Gütern geblieben? Die spinnen doch alle, die Ostpreußen, alle waren sie große Herren und Gutsbesitzer. Nichts als Bettler und Schmarotzer! - Im besten Geschäft einer holsteinischen Kleinstadt stand ein Schild im Schaufenster: Für Flüchtlinge Zutritt verboten! Und immer wieder Rechtfertigungsnöte: Warum habt ihr euch alles wegnehmen lassen? Wieso habt ihr euch nicht anständig gewehrt? Selber Schuld!
Zeitsprung: ca. 15 Jahre später. Der Erstgeborene wächst bei kriegstraumatisierten Eltern heran. Einladung zum Geburtstag bei Schulkameraden. Großes Haus, in der Halle hängen goldgerahmte Herrschaften, eine wilde Horde gleichaltriger Kinder, die an jenem Tag alles darf. Tortenbüffet, lustige Spielchen mit Geschenken für alle. Die erwachsene Verwandtschaft des Geburtstagskindes hat sich in Salons zurückgezogen, in die ich aus Versehen beim Suchen nach den anderen gerate. Freundliches Entgegenkommen, wer ich denn sei, wie denn mein Vater heiße, wie bitte – noch einmal. Ach, der ist aber nicht von hier, oder? Ich werde zu den anderen Kindern geleitet und darf weiter mitspielen. Aber nun bin ich erkannt, man achtet darauf, daß da keine zu tiefen Freundschaften zu mir aufkommen, daß die Distanz gewahrt bleibt. Dieses gewisse Gefühl jener Situation begegnet mir in vielen Variationen und es verfolgt mich zwanghaft. Alle sind nett zu mir, solange ich akzeptiere, daß ich nicht wirklich dazugehöre, daß es da immer eine unsichtbare Trennlinie geben wird. - Andere Kinder haben Verwandtschaft, ich habe nur die Eltern. Die eigene Verwandtschaft ist ziemlich ausgedünnt irgendwo in Deutschland verstreut. Meine Eltern arbeiten fleißig, gehen ganz auf im hier und jetzt, vermeiden gründlich jegliche Bezugnahme zu Vergangenem. Politik von Brandt wird gutgeheißen, Vertriebenenverbände werden als ewiggestrig eingestuft, da gehen nur die Großeltern vielleicht noch hin. Die Eltern begreifen sich als fortschrittlich, wollen nicht auffallen, wollen ihren Platz in der Gesellschaft finden und glauben, ihn sich durch Leistung und besondere Pflichterfüllung erkaufen zu können.
Zeitsprung ins heute: Wenn ich mir die Lebens- und Familiensituationen ansehe, aus denen meine vorwurfsvollen Gesprächspartner kommen, dann finde ich oft kleinbürgerlich ländliche, westdeutsche Verhältnisse, die sich jedoch mit den Jahrzehnten gut gefügt haben. Da wurden aus unrentablen Resthöfen der Großeltern, oder aus Feldern der kinderlosen Tante mit der Zeit begehrte Baugrundstücke. Da kam es in den letzten Jahren hin und wieder zu respektablen Erbschaften: ein Grundstückchen hier, ein Grundstückchen da. Oft konnte man schon sehr früh selber bauen auf einem großzügig bemessenen Areal des Familienbesitzes. Für die Baukosten mußte dann eben mal eine Parzelle veräußert werden. Wenn man noch arbeitet heute mit um die 50, dann müßte man es nicht mehr unbedingt, falls der Job kriseln sollte oder die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Man könnte von der Substanz und den Mieteinnahmen leben. So sind halt die Verhältnisse. Aber was beschwere ich mich? Mein Großvater hat doch auch bereits 1956 ein eigenes Häuschen mit 900 qm Grundstück bezogen. Aus Lastenausgleichsmitteln finanziert? Ja. Das Geld hat aber bei weitem nicht gereicht bzw. ohne jenes Geld hätte die Chance gar nicht bestanden, in diesem Siedlungsprojekt aufgenommen zu werden. Es war das Minimum an Eigenkapital, 10 oder 20%, der Rest wurde durch einen zinsgünstigen Kredit finanziert, dessen Raten sich meine Großeltern über Jahrzehnte vom Munde absparten. Regenwasser wurde aufgefangen, nur Glühbirnen der niedrigsten Wattzahl benutzt und nur Licht, wenn es denn wirklich nicht anders ging. Hühner und Schweine selbst großgezogen, die Eier und das überzählige Schwein verkauft, Holz und Kohlen für die Heizung gespart, bis das Rheuma die Knochen zerfraß. Jeden Quadratmeter des endlich wieder eigenen Bodens zur Selbstversorgung genutzt und den nicht selbst genutzten Ertrag gleich wieder zu Markte getragen. So waren die Verhältnisse. Nun leben meine Eltern in diesem Haus, mein Vater pflegebedürftig, meine Mutter, 76, hält eisern die Stellung. Das Haus wurde beizeiten durch die Eltern dem heutigen Standard angepaßt, die Heizung ist zentral und mit Öl, der Kochherd elektrisch, die Toilette im Bad, es gibt auch noch eine zweite für Gäste und heißes Wasser kommt aus der Leitung. Die Zimmerchen sind großzügiger geschnitten, ein Anbau machte es möglich. Das Nachbargrundstück ähnlicher Güte wechselte vor einigen Jahren den Besitzer für 120.000 €. Ich habe noch 2 Geschwister. Erbtanten gibt’s nicht. So sind halt die Verhältnisse.
Also, was will ich denn nun? Rumjammern und einen Opferstatus in zweiter, dritter Generation einfordern? Nein, um Himmels willen, nein. Das mit dem Opfer sein ist zwar verlockend, eine machtvolle Rolle, die ja deswegen von mehreren Gruppen eifersüchtig umkämpft wird. Wenn man tiefer darüber nachdenkt, dann ist jener Status zwar machtvoll, kann aber auch die eigene Entwicklung mächtig behindern. Nein, das soll es bitte nicht sein.
Ich möchte einfach ganz selbstverständlich zu meinen Wurzeln stehen und diese erforschen dürfen. Genau so, wie es viele andere Deutsche in Hessen, Holstein oder Westfalen auch tun. Ich will kein Mitleid, ich will keinen Opferstatus. Ich will aber auch keine „braune“ oder wie auch immer gefärbte Projektionsfläche abgeben für jene Geschichten, denen sich vielleicht einige meiner ach so kritischen Gesprächspartner nicht gestellt haben. Es reicht. Schluß damit!
Ich wünsche mir eine wohlwollende Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit in dem Sinne, daß es das Gleiche gilt, ob nun jemand seine holsteinischen, bayerischen oder friesischen Wurzeln verfolgt, oder ob es um ehemalige deutsche Gebiete geht. Gehört doch jetzt alles zu Europa – oder nicht?
Ist jenen so kritisch Meinenden bewußt, was sie antreibt, wenn sie schlicht und simpel assoziieren, wer da so viel Schlimmes erlebt hat, wer da alles verloren hat, der muß auch irgendwie selbst daran schuld sein...? - Und hat damit ein Recht auf Erinnern verwirkt..? Ist ihnen nicht bewußt, daß auch ihre Vorfahren einen Anteil daran tragen? Gab es in Westdeutschland keine Nazis, hat man dort nicht die NSDAP gewählt? Hat man dort den Terror verhindert? Hat man dort Gegenmaßnahmen ergriffen? Waren die im Westen die besseren Deutschen, die ihr besseres Schicksal auf geheimnisvolle Weise verdient haben? Wohl kaum! Die Maßnahme, immer den jeweils anderen zwecks Entlastung die Schuld aufzubürden oder ihnen eine diffus minderwertige Haltung zu unterstellen, sollte doch in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft nicht mehr funktionieren...? ! Früher haben wir eine Mauer quer durch Deutschland gehabt und die „bösen“ Deutschen waren jeweils auf der anderen Seite. Seit nun fast zwei Jahrzehnten gibt es diese „Projektionswand“ nicht mehr. Wer sind nun die „bösen“ Deutschen?
Ich wünsche mir eine größere Achtsamkeit im Umgang mit diesem sensiblen Thema. Eine „Achtsamkeit“, die nicht einfach einseitig von den noch lebenden Betroffenen gefordert werden darf, indem diese möglichst schweigen und sterben sollen. Jene, die den Krieg und die Nazizeit aufgrund günstiger Umstände im Westen vielleicht mit weniger Schaden überstanden haben, müssen sich fragen lassen, warum sie den Betroffenen inclusive deren Kindern und Kindeskindern die Bezugnahme auf Vergangenes als etwas Unrechtes oder gar als Revanchismus, als latente Nazigesinnung fast zwanghaft vorhalten.
*) Albrecht von Brandenburg-Ansbach, geb. 17. Mai 1490 in Ansbach; † 20. März 1568 in Tapiau; 1511 zum Hochmeister der Dt.Ordens in Preußen gewählt. 1525 wandelte er im Zusammenwirken mit seinem Onkel, dem polnischen König, das ihm unterstellte Ordensland in ein erbliches Herzogtum um und führte die Lutherische Reformation durch. Der Orden klagte gegen den Staatsstreich zwar erfolgreich, das Urteil gegen Albrecht fand wegen der allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Lage (u.a. Luther) keine Vollstrecker. Preußen blieb Herzogtum und fiel 1618 nach Aussterben der dortigen Linie an den eng verwandten Brandenburgischen Kurfürsten in Berlin.
**) Die Flucht, ARD - TV-Film, 1. Sendetermin 4. + 5. März 2007
Labels: Ahnenforschung, Genealogie, Ostpreussen
2 Kommentare:
Du hast meinen ungeteilten Beifall, Viktor! Ich bin auch einer, den man 1945 von der Heimat "befreit" hat, dazu auch noch von seiner Gesundheit. Meine damals 9jährige Schwester hat die Befreiung nicht überlebt. Warum eigentlich mussten nur wir aus dem Osten die Strafe für die deutschen Kriegsverbrechen erleiden? Und den Quatsch mit dem Lastenausgleich kann ich gar nicht mehr hören. Nichts gab es da außer einer Rente von nicht einmal 60 Mark für meine Mutter. Der Sinn des Lastenausgleichs war doch, den Verlust an Zugewinn etwas auszugleichen, beileibe nicht den Verlust selbst. Wenn man allerdings heute sieht, was mit den Milliarden so geschieht, die unsere Eltern mit erarbeitet haben, dann kann einem die kalte Wut hochkommen.
Aber der liebe Gott straft alle, dessen bin ich gewiss!
Willi Martin
Bravo Viktor,
mit der vorstehenden `Polemik` hast Du sehr, sehr vielen Menschen aus dem Herzen und der Seele gesprochen und dem schließe ich mich uneingeschränkt an- zumal ich doch frapierend ähnliche Erfahrungen machen konnte.
Übrigens gab es nach dem Krieg das geflügelte Wort: "Den Krieg haben nur die Deutschen aus dem Osten verloren." Und das galt erst recht dann, wenn die Überlebenden von Flucht und Vertreibung ihr weiteres Leben in der ehemaligen DDR verbringen mußten!
In diesem Sinne meinen herzlichen Glückwunsch zu dieser gelungenen Website.
Frank Gerald Quint
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