Streitigkeiten in der Stadt Schippenbeil 1718
Hier habe ich nun eine Geschichte entdeckt, in der ein direkter, namensgebender Urahn von mir mitspielt: Andreas HAUPT (*29.11.1668; +18.05.1736), mein Ururururururur-Großvater - oder kurz gesagt: 7Ur. Er war wie sein Vater zunächst Tuchmachermeister in der Stadt, wurde dann Ältermann (Vorsitzender) des Tuchmachergewerks und am 08.10.1711 zum Gerichtsverwandten gewählt (ein Gerichtsverwandter verwendet sich für das Gericht, heute würde man Schöffe sagen). In den Jahren 1709-10 raffte die Pest etwa ein Drittel der damaligen Schippenbeilschen Stadtbevölkerung hinweg. Andreas überlebte und wurde wahrscheinlich auch deshalb auf einen vakant gewordenen Posten gewählt. So kam es, daß er in diese Geschichte verwickelt, daß der nachfolgend wiedergegebene Brief geschrieben wurde und er als letzter auch selbst unterschrieb. Ich fand später noch mehr Dokumente mit seiner Unterschrift.
Ich liebe solche Momente, wo ich eine irgendwie interessant erscheinende Akte angefordert habe und im Lesesaal des Archivs zum ersten Mal aufschlage. Die Momente des ersten Sichtens einer Handschrift, in denen mein Auge plötzlich hängen bleibt an einem bekannten Namen: Moment mal, das heißt doch Haupt - ja, Andreas Haupt, äh... deeer Andreas...!!! Und dann geht´s los: ganz aufgeregt erschließe ich den Text und erfasse die Zusammenhänge und vergewissere mich. Ich muß mich etwas zusammennehmen, um nicht begeistert aufzuschreien - das wäre eine unpassende Reaktion im sonst so stillen Lesesaal, in dem man nur das leise Knistern alten Papiers und gelegentliches Räuspern konzentriert arbeitender Forscher vernimmt.
Mich begeistert es, wenn ich wieder eine Spur gefunden habe, die jene sonst etwas dürren genealogischen Daten von Geburt und Tod mit Leben erfüllt. Ich fühle mich ein bißchen wie ein Kriminologe, der beharrlich nach Spuren sucht, um den Fall zu lösen. Und mein Fall heißt: wie haben meine Vorfahren gelebt, was haben sie gemacht, was hat sie bewegt, was haben sie erlebt?
Im Laufe der Jahre haben meine Recherchen mein Grundgefühl für Zeit verändert. Früher, bevor ich mit meinen Forschungen begann, waren Jahreszahlen wie 1718 oder 1662 -nun ja- ganz schlichte Zahlen, die irgendwie diffus einen Zeitlauf charakterisieren. Heute verbinde ich damit eine präzisere Vorstellung: ich weiß genau einzuordnen, da hat Andreas Haupt gelebt, in etwa ein Zeitgenosse von J.S.Bach, da hat sich dann dieses und jenes abgespielt, einerseits regional in Schippenbeil, andrerseits kann ich die größere Geschichte Preußens und Mitteleuropas zuordnen, finde nun immer auch meinen ganz speziellen persönlichen Bezug in die allgemeine Geschichte. Ich fühle mich irgendwie mehr verbunden, mehr eingebunden in den Lauf der Zeit. Ich kann mich besser verorten, fühle mich mehr zu Hause - egal wo ich mich aufhalte. Und das tut mir gut.
Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König, Allergnädigster Herr
30: Mart:1718 Wie ungern auch Richter und Schöppen der Stadt Schippenbeil Erw. Königl. Majestät in dero andere und hohen Königl. affairen behelligen, so werden Sie dennoch dazu höchst noth drünglich von des dasigen BürgerMeister Georg Wilhelm Reimanns unfreundlichen und gantz unverantwortlichen Verfahren veranlasset; angemercket E. Gericht in aller unterthänigkeit Klagende vorzutragen; waß maßen es sich d. 22. Martii a.c. in facto zugetragen, daß nachdem E. Rath Gericht und die gantze Gemeine des Seel. Bürger-Meisteren Philipp Bartholomaei Wildens Mältzen Bräuer Hauß, welches Schuldens wegen der Stadt zu gefallen, an Greger Walthers hiesigen Bürgers und Kürschners umb und vor 1000 mk Pr. verkauffet, welchen geschloßenen Kauff als Käuffer zu verschreiben und ihm das Dominium zu erlangen Ansuchung gethan, hat der BürgerMeister Reimann solches vor Rath vorzunehmen sich unterstanden. So bald Richter und Schöppen hievon Nachricht erhalten, sind g..? aus ihren Mitlen Nahmentlich Andreas Friedrich Pastinatius, und Andreas Haupt ab deputiret umb den BürgerMeister in aller Hoffligkeit vorzustellen, wie daß der gleichen Sachen Käuffe und Verkäuffe nicht vor des Rath sondern vor Gericht gehörten und ihn bittlich zu ersuchen hierein keine Neürungen zu machen und dem Gerichte fürgriffe zu thun, sondern es bey der alten observance und wie es die Rechte verordnen bewenden laßen.
Kaum aber als der eine Gerichts Verwandte Andreas Fridericus Pastinatius mit der größten Modestie sein Wordt nomine des gantzen Gerichts angebracht, hat mehr besagter BürgerMeister Reimann die beyde Membra E. Gerichts sehr empfindlich angefahren, gar unanständliches mit unhofflichen Worten und Weisung der thüre abgewiesen und als der eine Gerichts Verwandte dagegen opponirete und den BürgerMeister geantwortet, daß er E.(hrwürdiges) Gericht so unhöfflich nicht tractiren solte, hat der BürgerMeister sich noch weiter emportiret und die beyden abgeschickte Membra des Gerichts und folglich E. gantzes Gericht gar indigne tractiret, in dem er ihnen nachgelauffen, und in die ungeziembte Worte ausgebrochen; Kerl halt das Maul und gehe fort wenn hinkünfftig in der gleichen Sachen was passiren wird, soll es E. Gericht nicht mehr haben, ist derauff nach der Stube gelauffen und hat die StubenThür mit größtem Ungestüm hinter sich zugeworffen.
Wann aber allergnädigster König und Herr dergleichen Sachen Käuffe und Verkäuffe auch wie sie ..? haben, nicht nur nach unserem wohl...? LandRecht pag: 35 vor E. Gericht gehören, sondern solches Streit auch bereits ao. 1691 zwischen E. Rath und Gericht durch gewiße Gravamina Sub N13 abgemachet, welche der BürgerMeister als damahliger Richter mit helffen auffsetzen und eigenhändig unterschrieben, so auch nachgehends was der Allergnädigsten Herrschafft Confirmiret und dafern vim Legis erhalten, daß also des BürgerMeister Reimanns unternehmen wieder die offenbahre Verordnung der Rechte in contra propriam Submissionem über dem, des unanständige Verfahren des BürgerMeisters der sich nicht enträthet E. Gericht sogar indigne zu tractiren, in respect. E.Gerichts drenget, und also wohl einer exemplarischen Beahntung meritiret; als haben Richter und Schöppen nicht umbgang nehmen mögen, hierüber Klage zu führen und solches umb so viel mehr, da sie besorgen müßen der BürgerMeister Reimann dörffte es dabey nicht bewenden laßen und E. Gericht nicht nur weiter Einträge thun, sondern wohl gar desgleichen Exesse und Gewalthätigkeiten als er vor einigen Jahren an seinen Collegen dem seeligen StadtSchreiber und ViceBürgerMeister Cramer und dem RathsVerwandten Engelbrecht mit einschlagen der FensterLaden und Fenstern, und deßjeden zu Nachtschlaffender Zeit verübet, undt aus zu üben kein bedenken getragen; solchen Unheil nun in Zeiten [zu]vorzukommen, bitten Richter und Schöppen in Allerunterthänigkeit Ew. Königl. Majestät geruhen allergnädigst dem Landrath und HauptMann von Rastenburg von der Gröben mediante rescripto auffzugeben und zu befehlen, Sie wieder alle Einträge des BürgerMeisters zu schützen und ihn mit gehöriger Weisung auff das Landrecht und die confirmirte gravamina zu verweisen, die angethane Beschimpfung E. Gerichts aber als andern dinge, so wohl dörfften angegeben werden, gründlich zu untersuchen und nach befinden andern zum Exempel den BürgerMeister in öffentliche Abbitte und in eine Nahmhaffte fiscalische Straffe etwa von 200 fl.(Gulden) zu verurtheilen. In welchem billigen und gerechten Gesuch sie sich allergnädister Erhörung getrösten und ersterben
Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König Allergnädigster Herr, Ew. Königl. Majestät Allerunterthänigste
Gottfried Stendel p.f. Richter
Christoff Schönwaldt SchöppMst
Johan Friedrich Weißermel, Zacharias Schultz, Samuel Engelbrecht, Christian Ramthun. Andreas Fridrich Pastinatius, Andreas Haupt. [Schöppen und Gerichtsverwandte]
Anmerkungen zum Beschuldigten:
George Wilhelm Reimann, geboren im Juli 1658 in Schippenbeil, des Richters Reimann Sohn, "des bekannten Preußischen Redners und gekrönten Poeten, auch Professor Eloquentiae George Reimanns Urenkel", studierte Jura, kehrte in seine Heimatstadt zurück, wurde 1689 an seines Vaters Stelle Richter, 1703 Bürgermeister. Er starb um 1718 [und hat demnach diesen nervenaufreibenden Kompetenzstreit nicht lang überlebt].
Anmerkungen zu anderen im Brief genannten:
Stadtschreiber u. Vice-Bürgermeister [Christian] Cramer, aus Friedland gebürtig, 1686 zum Stadtschreiber nach Schippenbeil berufen, 1703 Vicebürgermeister, 1711 Richter. Starb am 3.11.1714 in Schippenbeil.
Rathsverwandter Engelbrecht: kann ohne Vornamennennung nicht zweifelsfrei eingeordnet werden, weil so viele aus dieser Familie Ratsfunktionen inne hatten. Evtl. ist der unterzeichnende Samuel Engelbrecht gemeint.
Anmerkungen zu den Unterzeichnenden:
Gottfried Stendel (1672-1737) war ein erfolgreicher Apotheker, der es verstand außergewöhnlich wirksame Medizin herzustellen, ab 1711 Ratsherr, 1715 Richter in Schippenbeil. Er hatte keine Familie und vererbte seine Apotheke an das Waisenkind Heinrich Hagen (1709-1772) , dessen Eltern 1709 an der Pest in Schippenbeil starben. Heinrich Hagen war sein Neffe und wurde später ein berühmter Apotheker und Chemiker in Königsberg.
Christoph Schönwaldt, am 30.Sept. 1703 Gerichtsverwandter, danach Schöppmeister [Schöpp = Schöffen...]
Johann Friedrich Weißermel, am 30. Sept. 1703 Gerichtsverwandter, danach Schöppmeister
Zacharias Schultz wurde am gleichen Tag 1703 Gerichtsverwandter, starb im Dez. 1719 in Schippenbeil
Samuel Engelbrecht wurde am 8. Okt. 1711 Gerichtsverwandter, starb im Juli 1731 in Schippenbeil
Christian Ramthun, wurde ebenfalls am 8. Okt. 1711 Gerichtsverwandter, später Stadtcämmerer
Andreas Friedrich Pastinatius, am 8. Okt. 1711 zum Gerichtsverwandten erwählt, Musicus Instrumentalis, starb im November 1718 in Schippenbeil.
Andreas Haupt (1668-1736), am 8. Okt. 1711 zum Gerichtsverwandten erwählt, hauptberuflich Tuchmachermeister, Ältermann des Tuchmachergewerks in Schippenbeil
Labels: Ahnenforschung, Familienforschung, Genealogie, Ostpreussen, Schippenbeil
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