Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Montag, 27. Oktober 2008

Heinrich von Schwichell - ein ostpreußischer Glockengießer und Urahn der Familie

Im Herbst 1514 betritt Heinrich von Schwichel(l/t) vermutlich das erste Mal preußischen Boden. Er kommt per Schiff aus dem Baltikum. Der Livländische Ordensmeister Wolter von Plettenberg hat dem Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach über einen ordentlichen Gießer mit Namen Heinrich nach Königsberg berichtet. Der Hochmeister hat jenen auch sogleich angefordert. Und so kommt Heinrich nach Königsberg.

Der seit 1511 regierende neue Hochmeister hat kühne Pläne. Er will auf jeden Fall den anstehenden Lehenseid, die hoheitliche Unterwerfung unter die polnische Krone vermeiden. Bisher hat er die angesetzten Termine durch plausible Ausreden verschieben können. Sein Onkel, der König von Polen wird sich aber trotz der Familienbande nicht auf ewig vertrösten lassen. Albrechts Mutter ist eine Schwester des polnischen Königs Sigismund. Dieser verwandtschaftliche Bezug war auch ein triftiger Grund für Albrechts Berufung auf den Hochmeisterstuhl. Hinter den Kulissen werden nach allen Richtungen diplomatische Bündnisverhandlungen intensiviert, um auf eine anstehende Auseinandersetzung gut gerüstet zu sein. Ein guter Gießer, der sein Handwerk versteht, kommt da natürlich sehr gelegen. Haltbare Geschütze, die nicht gleich nach den ersten Schüssen zerbersten, können kriegsentscheidend sein.

Heinrich von Schwichell wird vom Hochmeister in Dienst auf Lebenszeit genommen. Zum Krieg mit Polen kommt es erst 1520/21. Bis dahin bleibt Zeit, etliche Glocken zu gießen.

Der Glockenguß unterscheidet sich, rein technisch betrachtet, nur wenig von der Geschützherstellung. Das Mischungsverhältnis der Metalle Kupfer und Zinn ist ein geringfügig anderes. Oft haben Glockengießer auch Geschütze, oder wie man damals sagte, Büchsen gegossen, je nach dem, wie die kriegerischen oder friedlichen Zeiten es erfordert haben. Glocken werden in Kriegszeiten geraubt und zu Kanonen gegossen und nach Friedensschluß hat man aus dem Metall erbeuteter Kanonen wieder die fehlenden Glocken ersetzt. So geschieht es auch nach dem sogenannten Reiterkrieg gegen Polen 1520/21, der letztlich für beide Teile nur hohe Verluste gebracht und die Machtfrage nicht entschieden hat.

Man vereinbart einen vorläufigen Frieden auf 4 Jahre zwischen Preußen und Polen. In diesen Jahren reist der Hochmeister viel in deutschen Landen umher, um für seine Angelegenheit zu werben. Man interessiert sich jedoch nicht sonderlich für das ferne Preußen. Luthers Ideen sorgen für Unruhe im Reich. Der Hochmeister trifft sich heimlich mit ihm. Die Verhandlungen mit dem polnischen König in Krakau nehmen eine überraschende Wendung: 1525 kommt es zu einem Staatsstreich. Der Hochmeister macht aus dem ihm unterstellten Ordensland ein erbliches Herzogtum. Er leistet dem polnischen König den Lehenseid. Der König läßt offiziell aus Krakau verlauten, der Orden habe sein Recht auf das Land verwirkt, da dieser es seit 1511 nicht für nötig gehalten habe, das Lehen zu erneuern. So habe er von seinem Recht auf Neuvergabe gebraucht gemacht. Preußen wird protestantisch, auch um sich vom Orden und vom Papst als ehemaligen obersten Herrn zu distanzieren. Das mag hier als historischer Hintergrund zur Entstehungszeit von Heinrichs Glocken genügen.

Der ostpreußische Provinzialkonservator Prof. Dr. Richard Dethlefsen findet 1917 noch 5 Glocken aus der Hand von Heinrich von Schwichel(l/t) (niederdeutsch auch Hinnerik van Swichel/t) im Lande vor. Sie werden allesamt als historisch und musikalisch wertvoll klassifiziert und entgehen dadurch der Verwertung in der Rüstungsindustrie des 1. Weltkriegs: 1515 Böttchersdorf, Kreis Bartenstein; 1518 Marienthal, Kreis Rastenburg; 1521 zwei Glocken in Medenau, Kreis Fischhausen, 1522 Thierenberg, Kreis Fischhausen. Über 400 Jahre lang klangen Heinrichs Glocken in Ostpreußen und im Samland. Sie haben den 2. Weltkrieg wohl nicht mehr überstanden.

Es hat aber noch weit mehr Glocken von diesem Gießer gegeben, die jedoch im Laufe der Jahrhunderte umgegossen wurden und daher in der Neuzeit in Vergessenheit geraten sind. Durch Zufallsfunde in Stadt- und Kirchenchroniken oder in zeitgenössischen Briefen (im Staatsarchiv Berlin) haben sich noch folgende Nachweise finden lassen: 1515 Gr.Ottenhagen, Kreis Königsberg; 1515 Heiligenwalde, Kreis Königsberg; 1517 Danzig, St.Johannis; 1521 Schippenbeil, Kreis Bartenstein und möglicherweise noch eine Glocke in Fleming, Kreis Rößel.

Zurück zu Heinrich: aufgrund der leeren Kassen nach dem Reiterkrieg bekommt Heinrich das Dorf Seeben bei Kreutzburg als Entgelt für seine Dienste zur Nutzung überlassen. Nach 1522 sind, soweit bisher bekannt, keine Glocken mehr von Heinrich entstanden. Offenbar kümmert er sich seitdem um die Bewirtschaftung seines Landbesitzes.

Erst 1535 geben Archivdokumente wieder Kunde von Heinrich: im Oktober erhält er den Zulaß, sich in Königsberg niederzulassen. 1536 bittet Heinrich seinen Herzog, daß Dorf Seeben verkaufen zu dürfen, beklagt sich über ungetreues Gesinde, das harte Landleben und berichtet von einem Hauskauf in Königsberg. 1542 tauscht Heinrich das Königsberger Stadthaus gegen ein Landgut in Kalkeim. Der herzogliche Rentmeister Georg Ogelin (heute würde man Finanzminister sagen) bekam jenes Landgut für seine Dienste zugesprochen. Er übernahm den Besitz erst gar nicht, sondern tauschte ihn sogleich gegen Heinrichs bequemes Stadthaus. Das Kalkeimer Gut, gelegen in den Pregelniederungen im südöstlichen Samland (Kirchspiel Heiligenwalde), blieb für über 300 Jahre in Familienbesitz. Umgerechnet nach heutigem Maße ergibt sich eine Größe von etwas über 100 Hektar. Der Name „von Schwichell“ veränderte sich: „von Schweicheln“ heißt es bereits in der Urkunde von 1542, dann später Schweichel oder Schweicheler und im 18. Jahrhundert hat sich der Name Schweichler, manchmal noch Schweigler geschrieben, durchgesetzt. Das „von“ verliert sich bei Heinrichs Enkeln. Der Sohn Peter steht als Büchsenmeister bei verschiedenen Fürsten in Diensten, übernimmt im Alter aber wieder die Führung seines Gutes. Gießer ist dann niemand mehr geworden. Überwiegend finden sich sogenannte Cöllmer, freie Bauern, unter den Namensträgern. Aber auch in Verwaltungsämtern taucht der Name auf: z.B. als Conrector der samländischen Creiß-Justiz-Commission um 1780. Ein Organist Schweichler findet sich z.B. um 1750 in Fischhausen.

Der Name Schweichler breitet im Laufe der Jahrhunderte überall im Samland und in alle Teile Ostpreußens aus. Bei allen diesen Namensträgern ist Heinrich von Schwichell als Urahn zu vermuten. Ein auf die Kalkheimer Abstammung zurückzuführender Namensträger heiratet um 1790 in eine Krügerfamilie am Kurischen Haff ein. Ab ca. 1800 wird der Krug in dem kleinen Fischerdorf Stombeck von der Familie Schweichler geführt. 1932 wird dort meine Mutter Betty Schweichler geboren. 1948 endet jener ostpreußische Teil der Geschichte Schweichler und findet in dieser Linie 1949 eine Fortsetzung in Schleswig-Holstein.

Die Herkunft des Urahns dieser Familie, des Glockengießers Hinnerik van Swichel / Heinrich von Schwichell liegt noch im Dunkeln. Der Name von Schwichel(l/d/t) kommt in der Region Hildesheim vor. Dort gibt es seit mittelalterlichen Zeiten ein reich begütertes Rittergeschlecht mit diesem Namen, welches 1790 in den Grafenstand erhoben wird. Der letzte männliche Namensträger Graf Kurt von Schwicheldt verstirbt 1908. In den überlieferten Stammtafeln dieser Familie gibt es in der fraglichen Zeit mehrere Heinrichs, die aber alle nicht recht passen. Außerdem erscheint es undenkbar, das ein Sproß jenes adelsstolzen, Schlösser und Burgen besitzenden Geschlechts ein Handwerk ausübt.

Von Heinrich sind sehr eigenwillige Glockeninschriften überliefert, die vielleicht auf eine illegitime Geburt hinweisen. Eine große, um 1855 in Heiligenwalde umgegossene Glocke hat ursprünglich folgende Inschrift getragen: IN GOTTES LOB EVICKLICH * ALLEN GELAUBIG SELLEN * TROSTLICH BIN GEFREIT ICH * EIN HURKINT EIGET MICH * MCCCCCXV. Aus Schippenbeil ist diese Glockeninschrift überliefert: ICK BIN SO FRI ALS DEN WINT * DE MI EGHENT DAT IS VAN AERDEN EN HORKINT * HENRICK VAN SVICHELT GOS MICH * MCCCCCXXI.

Heinrichs beruflicher Hintergrund läßt einen bedeutenden Lehrmeister vermuten: Dokumente des Staatsarchivs belegen, daß Heinrich 1515 nach Kampen in Holland reist, um seine Frau nach Erhalt einer festen Anstellung nach Preußen zu holen. Kampen ist zu der Zeit eine bekannte Hansestadt an einem Zufluß zum Ijsselmeer gelegen, die regen Geschäftsverkehr übers Meer mit Preußen und den baltischen Ländern pflegt. Außerdem ist sie die Heimatstadt eines der bedeutendsten europäischen Glockengießer seiner Zeit: Geert van Wou oder Meister Gherardus de Wou (1450-1527). Er fertigt Glocken in Osnabrück, Hamburg, Stendal, Lüneburg, Kalkar, Münster, Xanten, Erfurt, Recklinghausen, Braunschweig, Hagen/Westf., um nur die wichtigsten im heutigen Deutschland zu nennen. Geert van Wou ist berühmt für seine vollkommen klingenden, harmonisch abgestimmten Glocken. Meister Geert unterhält auch Geschäftsverbindungen zu Wolter von Plettenberg nach Livland. Um 1501 werden Geschütze dorthin geliefert. 1509 hat Johannes Schonenborch, ein Stiefsohn des Geert van Wou, in Riga Glocken gegossen bzw. dorthin geliefert. Außerdem geben viele Aktenstücke aus der Zeit um 1520/30 des Berliner Staatsarchivs Kunde von einem Königsberger Kaufmann Gerd/Gerrit von Wow, einem möglicherweise nahen Verwandten des berühmten Gießers. So läßt sich ziemlich sicher annehmen, daß Heinrich mit Meister Geert van Wou in Verbindung gestanden bzw. eine Zeit bei ihm arbeitet hat.

Ich bin dankbar für jede Art von Hinweisen oder Ergänzungen zur Schweichler-Familienforschung, sowie zu Glocken- und Kirchengeschichten hinsichtlich Heinrich von Schwichell. Gerne beantworte ich auch Fragen in diesem Zusammenhang. ViktorHaupt@aol.com

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