Der Glöckner von Schippenbeil
In
früheren Jahrhunderten lag Schippenbeil an der Chaussee von
Königsberg nach Warschau. Der Reise- und Frachtverkehr ging durch
die Stadt, die Krüge und Rasthäuser waren gut besucht. Das
Schippenbeiler Bier galt als besonders wohlschmeckend. Die
Bevölkerung bestand hauptsächlich aus selbständigen
Handwerksmeistern: Tuchmacher, Schneider, Schuhmacher, Böttcher,
Töpfer, Bäcker – alles was man so brauchte. Es gab Kaufleute,
Apotheker, Händler, Krüger, Müller. Man wählte die
Rathsverwandten (Ratsherren), die Richter und Schöppen und den
Bürgermeister aus der Bevölkerung. Die Einwohnerzahl lag über die
Jahrhunderte in etwa bei 2.000 Personen – mal mehr, mal weniger, je
nach den Umständen der Zeit.
Meine
namensgebenden Vorfahren, die väterliche Linie HAUPT, kann ich seit
1662 in der Stadt Schippenbeil nachweisen. Die Kirchenbücher liegen
seit 1654 vor. Tuchmachermeister waren die ersten Generationen, dann
Schneider, Tischler und schließlich seit den 1860er Jahren Landwirte
vor der Stadt, sogenannte Abbaubesitzer. Mein Urgroßvater Wilhelm
August HAUPT (1860-1929) bewirtschaftete einen Hof von etwas über 50
Hektar. Neben ihrem Beruf hatten die HAUPTs immer auch verschiedene
Ämter in der Stadtverwaltung oder der Kirche inne. Andreas HAUPT
(1668-1736), mein 7-Urgroßvater, wurde 1711 als Ältermann des
Tuchmachergewerks zum Gerichtsverwandten gewählt. Sein Sohn Johann
HAUPT (1694-1771), ebenfalls Tuchmachermeister, versah seit etwa 1729
das Glöckneramt bei der Kirche. Bei meinen Recherchen in
Schippenbeilschen Kirchenbüchern stieß ich im Jahre 1771 auf einen
erschütternden Sterbeeintrag:
„Herr
Johann Haupt, Glöckner bey der hiesigen Kirche, auch Bürger u.
Tuchmacher allhie, ein Wittwer, ist d. 19. Juli media nocte gestorben
und d. 22. ejusdem mit ner Leichenpredigt beerdiget worden, seines
Alters 77 Jahr 5 Monath 23 Tage u. im 42. Jahr seines Glöckneramts.
Er fiel vor 3 Wochen eb. d. 26. Juni vom Thurm, u. wurde an Händen
u. Beinen zerstümmelt. Qui escat in pace.“
Vor
allem deswegen wollte ich unbedingt einmal den Kirchturm in
Schippenbeil besteigen, wollte meinem 6-Urgroßvater nachspüren,
vorsichtig die gleichen Stiegen, Treppen und Leitern begehen. Nach
meinem Empfinden ist er möglicherweise im Turm von den Leitern
gefallen, vielleicht war ihm schwindelig, vielleicht hatte er eine
Herzattacke oder etwas ähnliches. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass er sich oben vom Turm gestürzt hat. Das hätte wohl niemand 3
Wochen überlebt.
Als
Wohnadresse wird 1771 angegeben: bei der Kirche. Möglicherweise hat
die Familie in jenem heute noch stehenden Gebäude gelebt, dass
hinter der Kirche direkt in die Stadtmauer eingebaut ist. Die
Glöckner lebten immer „bei der Kirche“ oder „an der
Kirchenstraße“, „am Kirchhof“. Vielleicht war das Haus die
Dienstwohnung der Glöckner. Aus alten Staatsarchivakten erfahre ich,
dass der Glöckner HAUPT ein Honorar von einigen Thalern im Jahr empfing.
In den Kirchenbüchern wird bei den Sterbeeinträgen genau
ausgewiesen, wieviel Geld eingenommen wurde für Extrageläut (ein
Zug Geläut, 2 oder 3 Züge Geläut). Vielleicht bekam der Glöckner
davon etwas ab. Die Akten der Kirchenrechnungen liegen nicht in
Berlin, sondern im Archiv Allenstein/Osztyn. Da gäbe es vielleicht
noch mehr zu entdecken.
1771
ergeht dann eine Ordre der königlichen Regierung, dass der Sohn des
Johann HAUPT, Andreas HAUPT (1734 - 1807), das Glöckner-Amt übernehmen soll. Folgende Schreiben
fand ich im Staatsarchiv Berlin-Dahlem:
Angerburg, den 4t Septbr:
1771
Allerdurchlauchtigster
Großmächtiger König
Allergnädigster
König und Herr!Das Justiz Collegium bittet allerunterthänigst den Andreas Haupt zum Glöckner bey der Schippenbeilschen Kirche zu bestätigen.
Da nach dem Bericht der Kirchenbedienten zu Schippenbeil der dortige Glöckner Johann Haupt verstorben, und gedachte Kirchenbedienten dessen Sohn Andreas Haupt zu diesem Amte in Vorschlag gebracht haben, so imploriren Erw: Königl: Mäjestaet wir allerunterthänigst gedachten Andreas Haupt hirzu bestätigen zu lassen.
Die wir in tiefster Ehrfurcht ersterben.
Ehrw. Königlichen Majestaet
allerunterthänigste und gehorsamste Dienern
Schon am 7. September 1771 kommt aus Königsberg diese kurze, preußisch knappe Antwort:
Wir bewilligen auf eure
allerunterthänigste Vorstellung vom 4t hujus hiermit gnädigst, dass
der in Schippenbeil, durch des Johann Haupt Absterben, erledigte
Glöckner-Dienst mit desselben Sohn Andreas Haupt hinwiederum
besetzet werde, und habt ihr also das weiter nöthige darunter, wie
gewöhnlich, zu veranlassen.
So
hat dann mein 5-Urgroßvater , der Schneidermeister Andreas HAUPT das Glöckner-Amt 1771
gemäß allerhöchster Bestätigung übernommen und sicherlich noch
einige Jahrzehnte fortgeführt. Die Schippenbeilschen Glocken wurden
77 Jahre von meinen HAUPT-Vorfahren geläutet.
Bemerkenswert
ist, dass 1521 mein Urahn Heinrich von Schwichel Glocken in
Schippenbeil gegossen hat. In den vorausgegangenen Jahren, während
des Krieges mit Polen, wurde eine große schadhafte Glocke in
Schippenbeil für Geschütze eingeschmolzen. Nach Beendigung der
Auseinandersetzungen mußte sie neu gegossen werden. Zitat aus „Die
Stadt Schippenbeil mit Berücksichtigung des Kirchspiels und der
Umgegend“, Königsberg 1874, Seite 236:
>>
Der Glockenstuhl, 1668 neu gebaut, wird von vier Balkenlagen
gebildet. Das Holz soll aus dem Eichwalde des Schloßberges Dojaunen
genommen sein. Die älteste Glocke wurde im Jahre 1521 auf den Thurm
gebracht. Ihr Durchmesser betrug unten 2½ , der Umfang 7½ Berliner
Ellen. Der Größe wegen wurde sie nicht gezogen, sondern nur mit dem
Hammer angeschlagen. Die Inschrift lautete: ICK BIN SO VRI ALS DEN
WINT * DE MI EGHENT DAT IS VAN AERDEN EN HORKINT * HENRICK VAN
SWICHELT GOS MICH. MCCCCCXXI . Im selben Jahre ist noch eine mittlere
Glocke gegossen worden, die aber bald einen Riß erhielt und dann
umgegossen werden mußte. Die dritte Glocke wurde 1708 gegossen.
Durchmesser 1½, Umfang 5 Berliner Ellen. Inschrift: „Was du thust,
so bedenke das Ende, so wirst du nimmermehr übels thun. Durchs Feuer
bin ich geflossen, es hat mich Johann Jacob Dornmann gegossen.
Königsberg 1708“. Auch diese Glocke ist geborsten und im Jahre
1857 ungegossen worden.
Gegenwärtig
[1874] sind folgende Glocken:
1. Die größte und zugleich älteste Glocke vom Jahre 1732 für die von 1521, welche einen Riß erhalten. Inschriften: „Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Hause Gottes gehest und komme, dass du hörest. Eccl. IV.17 M. Joannes Georgius Segers, Pastor; Samuel Hart, Diaconus; Herr Ernst Sigismund von Schlieben, Reichsgraf und jetziger Amtshauptmann auf Rastenburg; H. Joh. Simon Krantz, Consul; H. Samuel Czierniewski, Viceconsul; H. Gottfried Stendel, Judex; H. Andreas Ewiger, Kirchenvorsteher; H. Johann Rautenberg. Me fudit Georgius Bernhardus Kinder, Regiomonti 1732“ - Durchmesser 2½, Umfang 6½ Berliner Ellen.
2. Die kleine Glocke von 1800. Inschriften: „Ich rufe zum Gottesdienste, melde manchen Todesfall, und die Begräbnisse beehrt mein lauter Schall. Zu Zeit des Pfarrers Segers, Diaconi Norgarb, Rector Drenckhahn, Cantor Ziegner, Kirchenvorsteher Nitsch und Lessing ist diese Glocke gegossen von Copinus in Rastenburg im Jahre 1800“ - Umfang ungefähr 11´, Durchmesser 3½ ´
3. Die zweitgrößte und neueste Glocke von 1857. Inschriften: „Getrost mich goss für christlich Werk J. Gross aus Königsberg. Geistliche und Kirchenvorsteher: R.Gregorovius, Pfarrer; E. Hinz, Prediger; v. Kobylinski auf Wöterkeim; F. Marquardt, Bürgermeister; C. Kosack, Stadtverordneter; L. Laser, Kirchenrendant; F. Czygan, Rector; C. Lehwaldt, Cantor; Gemeinde-Aelteste: C. Holstein, H. Ewert, F. Schulz, F. Thude aus der Stadt. E. Riebensahm , Landscron; C. Grap, Langendorf. Ehre sei Gott in der Höhe, Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Anno 1857“
4. Eine kleine Glocke zur Uhr von 1735. Inschrift: „Soli Deo Gloria. Me fudit Georgius Bernhardus Kinder. Reg. 1735“ - Durchmesser 5/8, Umfang ungefähr 2 Berliner Ellen.<<
Einzig die oben unter Nr. 1 genannte Glocke hängt heute noch im Schippenbeiler Kirchturm. Anmerkung: eine Berliner Elle = 66,6 cm. Alle anderen Glocken wurden in Kriegszeiten abgehängt und für Rüstungszwecke verwertet. Die Leerstellen wurden nach dem Krieg durch zwei neue Glocken besetzt. Die große Glocke Nr. 1 wußte man in den 1940er Jahren nicht ohne bleibende Schäden an der Bausubstanz aus dem Turm zu bekommen. Nur aus diesem Grunde hängt sie noch an ihrem alten Platz. Darin erklingt das umgeschmolzene Glockenmetall von 1521 aus Meister Heinrich´s Händen.
Dass
meine väterlichen Vorfahren schon vor Jahrhunderten Glocken
läuteten, die der namensgebende väterliche Urahn meiner Mutter
geschaffen hatte, empfinde ich als erstaunliche
historisch-genealogische Besonderheit. Wenn ich zu dieser Stadt
keinen genealogischen Bezug gehabt und mich nicht ausgiebig mit der
Stadtgeschichte beschäftigt hätte, würde ich niemals von dieser
Glocke erfahren haben. Denn Gießer Heinrich´s Lebensmittelpunkt und der
seiner Nachkommen lag ausschließlich im Samland.
Die Turmbesteigung gestaltete sich anfänglich mit Hindernissen. Der Pfarrer war neu im Amt und sehr in Eile, weil er noch in einer Nachbargemeinde eine Messe zu halten hatte. Erst wollte er den Schlüssel nicht herausgeben. Aber dann ließ er sich doch überreden. Wir bekamen ein riesiges Schlüsselbund mit schweren großen uralten Schlüsseln daran, das wir nach der Turmbesteigung an den Organisten zurückgeben sollten, der noch in der Kirche an der Orgel probte.
Die Turmbesteigung gestaltete sich anfänglich mit Hindernissen. Der Pfarrer war neu im Amt und sehr in Eile, weil er noch in einer Nachbargemeinde eine Messe zu halten hatte. Erst wollte er den Schlüssel nicht herausgeben. Aber dann ließ er sich doch überreden. Wir bekamen ein riesiges Schlüsselbund mit schweren großen uralten Schlüsseln daran, das wir nach der Turmbesteigung an den Organisten zurückgeben sollten, der noch in der Kirche an der Orgel probte.
Nach
unserer Turmkletterei bekamen wir vom Organisten eine kleines
Privatkonzert mit Orgelerläuterung (1859 von der Firma Buchholz in
Berlin gebaut). Wir sprachen noch lang mit dem interessierten
Organisten über die Kirchen- und Stadtgeschichte. Als wir das
Gotteshaus verließen, war es schon dunkel. Unter einem
klaren ostpreußischen Sternenhimmel fuhren wir in Richtung Rastenburg in
unser Quartier.
An einem der folgenden Tage kehrten wir zurück, um den alten Friedhof zu besichtigen: wie uns schon berichtet wurde, eine traurige Angelegenheit. Alle deutschen Gräber wurden nach 1945 so zerstört, dass man fast keine Namen mehr erkennen kann. Nur noch ganz vereinzelt hat man in neuerer Zeit alte Fragmente finden und teilweise etwas rekonstruieren können. Hier eine Fotoserie vom ehemaligen Heiligen-Geist-Kirchhof in Schippenbeil, an der Ausfahrt in Richtung Langendorf gelegen:
Ein alter Meilenstein kurz vor der russischen Grenze: 7 Meilen bis Königsberg
Zu Heinrich´s Glockengießergeschichte siehe auch diese Beiträge: http://www.genealogischenotizen.blogspot.de/2013/10/besuch-bei-einer-alten-glocke.html
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Labels: Friedhof, Glocken, Glockengießer, Heinrich von Schwichell, Kirchengeschichte, Schippenbeil
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