Familiengeheimnisse, Gerüchte und rätselhafte Geschichten
Ella Haupt, 1980er Jahre |
Diese merkwürdige Koinzidenz beschwor die Erinnerung an Ellas Vater Ferdinand SCHMADTKE (*28.3.1865 in Grünwalde bei Landsberg, †3.1.1933 in Landsberg) herauf und die spukigen Geschichten, die sie über ihn erzählt hatte. Ich zitiere aus Ellas Aufzeichnungen, die sie im Jahr 1982 niederschrieb: >> Vater hatte einen Freund, der TBC-krank war und wußte, daß er bald sterben mußte. Mein Vater und noch ein Freund haben ihn oft besucht und weil nun jeder über den Tod andrer Meinung war, wurde abgemacht, daß der Tote kommen und erzählen solle, wie es ist. Als er gestorben war, kam er in der Nacht zu Vater. Der mußte aufstehen und erblickte eine helle Gestalt, die mit ihm redete und ihm sagte, er solle nicht mehr zu seiner Braut gehen, denn die heirate einen andern und vieles, was mein Vater später auch erlebt hat, auch über mich. Ich werde zwei Männer haben, es komme darauf an, wen ich heirate. Bei einem werde ich alles haben und bei dem andren werde ich Not leiden. Dies hat mir mein Vater erst erzählt, als ich mich entscheiden mußte. Nach dieser Aussprache mit dem Toten ist Vater mehrere Tage wie krank aussehend herumgegangen. Auf Fragen seiner Eltern und Geschwister gab es keine Antwort. Die Antwort auf die Frage, wie der Tod sei, beantwortete er so: „Es ist nicht so, wie du oder ich gedacht haben – es ist ganz anders!“ <<
Ferdinand Schmadtke |
Sollte etwas von diesen merkwürdigen Fähigkeiten auf mich gekommen sein? Der Verdacht liegt nahe. Ich träume jede Nacht heftig und oft mehr als mir gut tut. Wenn ich immer meine lebhaften Traumgeschichten aufschriebe, ich käme zu nichts anderem mehr. Einiges davon bleibt dennoch nachhaltig im Gedächtnis und führt gelegentlich zu seltsamen déjà-vue-Erlebnissen.
In Ellas oben zitierten Ausschnitt aus ihren Aufzeichnungen gibt es einen bemerkenswerten Satz: „Ich werde zwei Männer haben, es komme darauf an, wen ich heirate.“ Wer waren diese Männer? Einer davon war Wilhelm HAUPT (*31.12.1893 in Schippenbeil, †12.2.1946 in Lehnin/Brandenburg), mein Großvater. Mit ihm hatte sie 8 Kinder, das 7. in der Reihe war mein Vater. Aber bekanntermaßen gab es dann noch Onkel Walter (*16.12.1920, †1983), ihr allererstes Kind von dem großen Unbekannten, der gleichfalls um sie warb. Großmutter Ella hatte mehrfach und in Varianten davon erzählt, daß dieser Unbekannte aus verschiedenen Gründen ihrer Familie und ihren älteren Halbschwestern nicht genehm war. Der Wilhelm HAUPT schien solider zu sein, einziger Sohn eines stattlichen Hofbesitzers bei Schippenbeil. Der andere Kandidat konnte vermutlich weniger Garantien für ein auskömmliches Familienleben vorweisen, löste aber wohl tiefere Gefühle und größeres Begehren aus.
Meine Großmutter habe ich als eher sachlich vernünftig erlebt, keine überbordenden Emotionen, gelegentlich schimmerte ein Hang zur Melodramatik durch in ihren Erzählungen. Aber wenn sie noch im Alter von über 80 Jahren mit unterschwelligem Bedauern an eine nicht gelebte Liebe zurückdenkt, muß dieser unbekannte Mann doch auf seine Weise sehr bemerkenswert gewesen sein. Außerdem gilt zu bedenken, daß meine Großmutter zur Zeit dieser Affäre kein Backfisch mehr wahr, sondern nach damaliger Einschätzung schon fast ein „spätes Mädchen“ von 24 Jahren. Ellas Halbschwestern spielten eine ambivalente Rolle in der Geschichte. Zum besseren Verständnis sollte ich wohl vorher die Familienverhältnisse genauer aufrollen:
Johanna Schikorr |
Die verwitwete Johanna Friederike SCHIKORR angelt sich in zweiter Ehe 1894 einen jüngeren Mann: Ferdinand SCHMADTKE heiratet mit 29 Jahren, während Johanna gerade die 40 überschritten hat. Älteste Tochter aus dieser Verbindung ist die schon erwähnte Ella SCHMADTKE *22.12.1895, zweites und letztes Kind Frieda SCHMADTKE, beide in Canditten geboren.
Ella Schmadtke 1912 |
Mein Vater war auch Mutters zweiter Mann. Der erste Mann von Mutter ist auch an TBC gestorben. Mutter hatte zwei Onkels, die königliche Oberförster in der Rominter Heide waren und sich zu Besuch angemeldet hatten. Alles war vorbereitet und Mutter war auch sauber angezogen worden. Da kam ihre Freundin zu ihr und verlangte ein Stück Zucker, sonst sei sie giftig auf sie, also böse. Der Zucker stand hoch an der Wand auf einem Brett, denn sie hatten noch ein kleines Kolonialwarengeschäft. Mutter war noch klein und kletterte auf die untenstehende Mehltonne, wollte nach dem Zucker angeln. Da drehte sich der Deckel und sie fiel in die Mehltonne. Als man sie aus der Tonne gezogen hatte, kamen die Onkels und wollten das „Hannchen“ begrüßen. Sie versteckte sich hinter Mutters Rock und drehte sich immer mit Ihrer Mutter hinter dem Rock mit. Dies hat uns Mutter selbst erzählt.
Der Großvater Schikorr [Carl Ludwig SCHIKORR, *31.12.1821 in Gallingen, †2.6.1902 in Canditten] war ein Pferdeliebhaber und als er eines Tages sein gekauftes Pferd im Garten nochmal beschauen wollte, stolperte er über eine Baumwurzel und brach sich die Hüfte. Nun saß er in einem schwarz lackierten Korbstuhl, der eine Kopfstütze hatte, am Fenster. Von da konnte er die Dorfstraße entlangsehen, den Stock hatte er neben sich stehen. So fand ich ihn immer sitzen, wenn Mutter mich zu ihm schickte. Onkel Hermann mußte die Wirtschaft übernehmen. Er war aber zum Gärtner ausgebildet. So hat er einen großen Obstgarten angepflanzt. Die Äpfel wurden mit Handschuhen gepflückt, in Kisten gepackt und nach Königsberg in die Markthalle gebracht, wo jeder seinen Stand hatte und die Äpfel teuer verkauft wurden. Die andren Bauern haben immer gern über ihn gespottet, er hätte auf seinem Sand Gemüsebeete gemacht. Es waren Versuchsfeldbeete und wenn er nachher besseren Hafer usw. erntete, dann hieß es „dem glückt alles“.<<
Wie ging es nun weiter mit der rätselhaften ersten Liebe meiner Großmutter?
Als nicht mehr zu übersehen war, daß eine Begegnung Folgen zeitigte, daß meine Großmutter in anderen Umständen war, fühlte sich die Familie genötigt, zwecks Rettung des Ansehens und Anbahnung geordneterer Verhältnisse energisch einzuschreiten. Meine Großmutter wurde umquartiert zu einer ihrer älteren Halbschwestern. Die Töchter aus erster Ehe von Johanna SCHMADTKE, verwitwete SCHIRMACHER, geb. SCHIKORR, waren schon jahrelang gut unter die Haube gebracht, wie man damals sagte. Bei einer dieser Schwestern, wo sie zu Gast war, so berichtete Ella mit verhalten melodramatischem Unterton, habe sie auf ihrem Nachttischchen eine Röhrchen mit Schlaftabletten vorgefunden. Sie habe aber nicht daran gedacht, dieser subtilen wie perfiden Aufforderung Folge zu leisten. Die Umstände sollte sich anders fügen. Halbschwester Hulda BÖHNKE, geb. SCHIRMACHER, wollte den unehelich geborenen Walter gern adoptieren, da es an eigenen Kindern fehlte.
Aus Ellas mündlich überlieferten Erzählungen, so wie ich sie erinnere: Während Ella zu Gast bei einer der Halbschwestern der bevorstehenden Geburt entgegensah, versuchte der Vater des Kindes herauszufinden, wo Ella geblieben war. Als er sie fand und besuchen wollte, sagte man ihm, Ella wolle nichts mehr von ihm wissen. Und Ella sagte man, das sei ja ein schöner Vater, der nach Bekanntwerden der Schwangerschaft nun nichts mehr von sich hören ließe. Auf diesen Mann sei kein Verlass.
Ella & Wilhelm Haupt 1921 |
Aber wer war nun der große Unbekannte und erste Mann im Leben meiner Großmutter? Ich selbst habe zu Lebzeiten meiner Großmutter nie zu fragen gewagt. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht erinnern, je daran gedacht zu haben. Mit Anfang 20 war ich noch gänzlich unbewußt in die subtilen Tabus der Familie eingebunden. Ich wagte nicht, heikle Fragen zu stellen. Nicht wegen meiner Großmutter. Sie hätte mir vielleicht etwas erstaunt, aber sicherlich unumwunden und ohne falsche Scham Auskunft gegeben. Aber da waren die vielen älteren Geschwister meines Vaters. Und ich war nur das Kind vom Werner, dem 7. Kind der Reihe – Walter nicht mitgerechnet. Mir stand es einfach nicht zu, etwas zu hinterfragen, was nicht von vornherein die Billigung der Familie gefunden hätte. Ich dachte und empfand das damals nicht bewußt, sondern „funktionierte“ ohne zu reflektieren in diesem gewissermaßen ziemlich beschränkten Rahmen des Familiensystems.
Ob Walter Böhnke gewußt hat, wer sein leiblicher Vater gewesen ist? Ich habe wirklich keine Ahnung. Wenn er etwas wußte, hat er wohl bevorzugt, darüber zu schweigen. Offiziell ist er von den Böhnkes adoptiert worden und sie stehen als Eltern in seinen Papieren. Kein Hinweis auf seinen leiblichen Vater, sagen seine Kinder. Walter hat 2 Töchter aus erster Ehe und einen Sohn aus zweiter Ehe. Sie kennen den Vater ihres Vaters nicht. Alle Zeitzeugen, die man noch fragen könnte, sind bereits lange verstorben. Man kann nur kühne Rückschlüsse ziehen aus Walters physischer Erscheinung und seinem gewissen Charisma und Charme, um sich das sicherlich attraktive Auftreten seines Vaters vorzustellen.
Es bleibt die Frage: wer war der unbekannte Mann und was ist aus ihm geworden? Warum hat niemand vor mir diese Frage gestellt?
Wer mehr über Canditten wissen will (im 20. Jh. auch Kanditten, polnisch Kandyty), findet z.B. hier weiterführende Informationen: www.natangen.de/
Link zu Familiendaten SCHMADTKE:
http://gw.geneanet.org/viktorh_w?lang=de&m=S&n=Schmadtke&p=
Labels: Ahnenforschung, Canditten, Familienforschung, Kreis Preußisch Eylau, Schikorr, Schirmacher
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