Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Sonntag, 2. Januar 2022

Kunst aus Königsberg

In den Sommermonaten laufe ich gern über die Flohmärkte in Berlin. Es gibt dort etliche Händler, die sich auf Bilder und Graphiken spezialisiert haben. Aber auch viele private Anbieter, die den aufgelösten Hausstand eines Verwandten anbieten, haben 'Kunst' im Angebot. Ich schaue mir deren Bestände an und richte mein Augenmerk auf Objekte, die eine ostpreußische Provenienz haben könnten. 

Die vielen grauslich kitschigen 'Ölschinken' mit dem berüchtigten röhrenden Hirschen oder einer 'schönen' Alpenansicht in unzählig gleichen Varianten versuche ich rücksichtslos zu ignorieren.

Ich habe viele historische Ansichten von Königsberg gesehen. Auch erkenne ich sofort, ob nur irgend eine Küste dargestellt ist oder ob auf dem Bild eine typische Ostseeküste oder gar die Samlandküste zu sehen ist. Auf meinen vielen Reise in das Gebiet habe ich oft lange Wanderungen an der Samlandküste unternommen. Der russische und der litauische Teil der Nehrung sind mir durch eigene Anschauung bekannt. 

Im letzten Sommer fand ich eine schöne Radierung mit einer typischen Ansicht aus Königsberg: Blick auf die sogn. Holzbrücke von Löbenicht auf die Lomse mit der Kneiphofinsel, der alten Universität und dem Dom im Hintergrund. Der Verkäufer hatte keine Ahnung, was dargestellt war und überließ mir die Graphik für einen kleinen Preis. Ich besorgte mir einen Rahmen und ein Passpartout. Seit dem hängt das Bild bei mir an der Wand und ich freue mich, wenn mein Blick darauf fällt.

Die Radierung ist unten rechts mit 'A. Michelau' signiert. Außerdem gibt es im Druck unten rechts ein Monogram: A und M ineinander verschränkt. Ich kenne eine Familie MICHELAU, die viele Generationen lang im Kreis Labiau ansässig war. Zwischen meinen Vorfahren und dieser Familie Michelau gibt es weitläufige Verwandtschaftsbeziehungen. Beim Betrachten des Bildes dachte ich öfter schon, ob nicht der Künstler vielleicht etwas mit dieser Familie zu tun habe. Aber wie soll ich das herausfinden, wenn nicht nachvollziehbar ist, wie der Vorname vollständig lautet?

 

Ich erinnerte mich daran, dass ein direkter Nachfahre der Familie Michelau umfangreiche Vorfahrenlisten auf seiner Webseite zugänglich gemacht hat. https://stephan-dethlefsen.jimdofree.com/

Dort bin ich die zahlreichen MICHELAUs noch einmal ganz genau durchgegangen. Ich fand "Michelau , Anna Marie , * 13.02.1872 Königsberg , + 18.03.1831 Königsberg , Kunstmalerin". Das könnte passen. Als nächstes befragte ich die Suchmaschinen nach 'Künstlerin Anna Michelau'. Auf der Seite eines Auktionshauses finde ich ein vergleichbares Werk, welches tätsächlich die gleiche Signatur wie mein Bild aufweist. 


Ich bin begeistert. Das Auktionshaus gibt in einer Kurzbiographie identische Lebensdaten an. Ich habe die Künstlerin identifiziert und gleichzeitig festgestellt, dass die wenigen erhaltenen Werke von ihr auch heute noch geschätzt und gehandelt werden. Im Netz habe ich noch weitere Bilder von Anna Michelau gefunden. Man erkennt deutlich den Bezug zur ospreußischen Heimat der Künstlerin:


Im Jahr 2019 gab es eine Ausstellung im Thomas-Mann-Haus in Nidden auf der Kurischen Nehrung, in der Anna und auch deren Schwester Helene Michelau gewürdigt wurden. http://thomas-mann-haus.de/ausstellung-anna-helene-michelau 

Annas jüngere Schwester Helene Michelau war eine professionelle Fotografin. Wenn man dem obigen Link folgt, erscheint ein Foto aus dem Jahre 1904, auf dem Anna Michelau an einer Staffelei arbeitend in der Nähe von Nidden gezeigt wird. 

Nun bin ich erst richtig neugierig geworden und hoffe auf weitere spannende Funde. 


 


 

Donnerstag, 27. Dezember 2018

Glockenbesuch in Litauen


Das Jahr 2018 geht zu Ende und ich habe noch nicht von meiner Sommerreise berichtet, die dieses Jahr nicht nur nach Polen, sondern bis nach Litauen führte. Im Sommer 2017 hatten mich litauische Glockenkundler informiert, dass man eine Glocke meines Glockengießer-Urahns Heinrich von Schwichel gefunden habe.


Kirche Thierenberg
Nach gründlichen Recherchen stellte sich heraus, dass die in der Kirche von Ramygala in Litauen befindliche Glocke bis 1945 in der Kirche Thierenberg im Samland hing. Sie wurde im Jahre 1522 gegossen. Das hohe Alter und der kulturhistorische Wert bewarten sie vor dem Einschmelzen für Rüstungszwecke im 1. und 2. Weltkrieg. Die Kirche Thierenberg wurde 1946 von den Russen abgerissen, weil sie einem geplanten Militärgelände im Weg stand und die Ziegel für Bauprojekte gebraucht wurden. Ich glaubte daher, die Glocke sei vernichtet worden. https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_Thierenberg


In Medenau, im südwestlichen Samland, hingen ebenfalls Glocken von Heinrich von Schwichel aus dem Jahre 1521. 1947 versuchten die Russen dort an die Glocken heranzukommen und legten dazu Feuer im Turm der völlig unversehrten Kirche. Seit dem ist die Kirche Medenau eine klägliche Ruine und die Glocken wurden vernichtet. https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_Medenau


Grundsätzlich war es so, dass die Sowjets im eroberten Ostpreußen keine Kirchenglocken mehr vorfanden. In der Regel mussten während des Krieges alle Glocken für die Kriegsrüstung abgeliefert werden. Nur ganz wenige, kulturhistorisch besonders bedeutende Glocken verblieben in den Kirchen. Diese alten Glocken erlitten dann meistens ein ähnliches Schicksal wie die Glocken von Medenau. Wenn man das Schicksal der Glocken von Medenau bedenkt, rechnete ich mit keiner weiteren großartigen Entdeckung von Heinrichs Werken.


Die Nachricht aus Litauen über eine Glocke von Heinrich hat mich daher völlig überrascht. Nach Überprüfung von Fotos und Vergleichen mit alten Glockenbeschreibungen war klar: es ist eindeutig eine Glocke von Heinrich von Schwichel und sie hing früher im Kirchturm von Thierenberg in der Mitte des westlichen Samlandes.


Im Jahre 1917 musste der Landeskonservator von Ostpreußen Richard Dethlefsen die Kirchengemeinden, in denen noch Glocken verblieben waren, auffordern, einen Fragenkatalog zu den Glocken zu beantworten, anhand dessen beurteilt werden sollte, welche dieser Glocken noch für den Krieg zu opfern waren. Aus der Antwort der Gemeinde Thierenberg erschließen sich folgende Angaben:

  • die Glocke klingt auf den Ton e
  • größter Durchmesser 1,33 Meter
  • Höhe ohne Krone 0,94 Meter
  • Höhe der Krone 0,25 Meter
  • Gewicht über 25 Zentner [also mehr als 12,5 Tonnen]

Nach meinem ersten Besuch bei einer Glocke von Heinrich im Jahre 2013 im nördlichen Polen, von der ich bis 2017 glaubte, sie sei die einzige Glocke, die bis heute überdauert hat, lockte nun die neu entdeckte Glocke in Litauen zu einem Besuch. Nach langen Jahren der Forschung, in der es darum geht, in alten schwer entzifferbaren Papieren weiterführende Informationen zu finden, ist es ein ganz besonderes Erlebnis, durch den Klang einer Glocke über eine akustische Brücke mit einer so fernen Epoche vor 500 Jahren und einem faszinierenden Urahn in Verbindung zu treten.
Am 9. August 2018 fuhr ich los in Richtung Polen. Als erstes Übernachtungsziel steuerte ich Olsztyn (Allenstein) an. Am Abend fanden wir eine angenehme Unterkunft an einem See vor Olsztyn. Das Bad im See nach einem heissen Tag mit über 30 Grad war ein erfrischender Genuss. Am nächsten Tag ging es weiter von Olsztyn über Mikołajki (Nikolaiken) und Suwałki bis zur litauischen Grenze und dann weiter über Marijampole nach Kaunas.


Kaunas

Kaunas
In Kaunas haben wir uns am Abend in der Altstadt mit einem Mitglied der litauischen Campanologenvereinigung (Glockenkundler) getroffen, der für den nächsten Tag den Besuch bei der alten Glocke in Ramygala organisiert hatte.
Ramygala liegt etwa 100 Kilometer nördlich von Kaunas. Am Samstag, den 11. August, trafen wir in Ramygala mit anderen Campanologen zusammen. Der Pfarrer der katholischen Kirche begrüßte uns mit einem herzlichen 'Grüß Gott' und geleitete uns in den Turm. Die Glocke wird nicht wie üblich geläutet, indem man die Glocke bewegt. Aufgrund der Größe, des Gewichts und wegen statischer Bedenken bewegt man nur den Schlegel durch eine besondere Mechanik. Der Schlegel ist einerseits für das normale Läuten durch ein über Rollen geführtes Seil zu bewegen. Anderseits ist auch eine Uhr mit dem Glockenschlagwerk verbunden, die mechanisch den Stundenschlag auslöst. 

Nach einer genauen Besichtigung der großen Glocke durfte ich läuten. Ein machtvoller Ton erfüllte den Turm und ließ alle Aufnahmegeräte beinahe kollabieren. Ich war tief beeindruckt. Das war nun also eine zweite akustische Brücke über die Jahrhunderte zu Heinrich von Schwichel. Es bedurfte vieler Versuche, wie die Glocke anzuschlagen ist, dass ein voller Ton hörbar wurde, der ohne Verzerrungen und Übersteuerungen auf das Aufnahmegerät kam. Der größtmögliche Abstand zwischen Aufnahmegerät und Glocke führte dann zu einem halbwegs zufriedenstellenden Ergebnis.

Wir erfuhren von Gerüchten, wie die Glocke nach Litauen gelangte: man erzählt sich, dass Litauer mit Beziehungen zur sowjetischen Militärverwaltung im besetzten Ostpreussen irgendwie davon erfuhren, dass in Thierenberg eine Kirche abgebrochen wurde und dass es dort noch eine Glocke gäbe. Angeblich habe man mit einigen Flaschen Wodka die Glocke aus Thierenberg für die litauische Kirche organisieren können. Wie man in den chaotischen Jahren direkt nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eine viele Tonnen schwere Glocke 300 Kilometer über schlechte Straßen wohlbehalten nach Nordosten transportiert hat, bleibt ein Rätsel oder zeugt von der Kraft des Glaubens jener Litauer, die trotz Krieg und Sozialismus ihrer Kirche die Treue hielten.
Kirche Ramygala

Auch auf litauischem Gebiet wurden in den Kriegszeiten sehr viele Glocken für Rüstungszwecke beschlagnahmt. Aus diesem Grunde fehlte in der Kirche von Ramygala das Geläut und erhielt würdigen Ersatz aus 'Feindesland'. Auf einer Urkunde aus dem Jahr 1947 wird die feierliche Glockenweihe in Ramygala bestätigt. Wie auch immer, ich bin glücklich, dass auf diese Weise eine weitere fast 500 Jahre alte Glocke von Heinrich überlebt hat. 
Der Tag des Glockenbesuch in Ramygala war der erste und einzige nach langer Zeit (11. August), der etwas kühler (nur 24 Grad) und etwas regnerisch war. Wir kehrten zurück nach Kaunas, besichtigten die Burg und bummelten noch einmal durch die lebendige Altstadt. Am folgenden Tag setzten wir unsere Reise nach Vilnius fort. Wenn man schon mal in Litauen ist, darf man einen Besuch in Vilnius auf keinen Fall auslassen. Vilnius bietet eine wunderschöne Altstadt mit einer unfassbaren Menge an Kirchen jeder Stilepoche und Glaubensrichtung. Das Wetter war wieder sonnig und strahlend mit erträglichen Temperaturen.

Vilnius, Aušros Vartai („Tor der Morgenröte“)
Vilnius, St.Anna, Meisterwerk litauischer Gotik











Dann ging es zurück nach Polen. Wir wollten noch einmal die zuerst entdeckte Glocke von Heinrich besuchen, die im Jahre 1518 für eine Kapelle in Marienthal bei Drengfurth gegossen wurde (heute Kosakowo). Die Kapelle wurde zwar während eines Tatareneinfalls im Schwedisch-Polnischen Erbfolgekrieg 1657 zerstört. Die Glocke blieb auf wundersame Weise erhalten und erhielt einen provisorischen Holzturm, in dem sie heute noch hängt. Am 15. August, dem Tag Mariae Himmelfahrt, haben wir das 500-jährige Jubiläum mit einem Marienläuten gefeiert.


In den folgenden Tagen erkundete ich noch etliche Schlösser, Herrenhäuser und Kirchen in der Grenzregion zum russischen Oblast. In früheren Jahren war das nie ein Problem. Die zunehmenden Spannungen zwischen West und Ost führen offenbar zu einem strengeren Grenzregime auf polnischer Seite. Ich wurde von polnischen Grenzsoldaten kontrolliert und ermahnt, dass ich mich strafbar mache, wenn ich mich ohne besondere Genehmigung der Grenze nähere und dort fotografiere. Während der Kontrolle befand ich mich auf dem ehemaligen Gutshof Heiligenstein, heute Święty Kamień. Mich interessierte nicht im mindesten die Grenze. Ich war auf den Spuren kulturhistorischer Überreste. Ich wollte keine Grenzanlagen ausspionieren. Nach der Kontrolle durfte ich weiterfahren nach Assaunen und Moltainen, wo mich die Kirchen interessierten. In den nächsten Tagen folgte dann die Rückfahrt Richtung Berlin.

Hier der Bericht über meinen ersten Glocken-Besuch in Marienthal: https://genealogischenotizen.blogspot.com/2013/10/besuch-bei-einer-alten-glocke.html

Siehe auch:
https://www.facebook.com/vffow/posts/2152802448382371

Scheunenturm Gut Heiligenstein
 



Kirche Assaunen / Kreis Gerdauen
Taufengel Kirche Barten
 
Grabkreuze an der Kirche Lindenau/Kreis Gerdauen