Königsberger Musikleben um 1760 - mit genealogischen Anmerkungen
>>Einer der leidenschaftlichsten
Kunstfreunde war damals in Königsberg der bekannte Jurist Lestocq,
der ein angesehenes Haus machte. Die meiste Zeit war sein Haus
angefüllt von jungen Studierenden vom preußischen, kurländischen
und liefländischen Adel, und erklang immer von Musik. Der Kriegsrath
Lestocq hielt viel darauf, daß die ihm anvertraute studierende
Jugend recht ernstlich Musik übte, und veranstaltete in seinem Hause
fleißig kleine und größere Concerte.
Unter den damals geschätzten und
wirklich verdienstvollen Tonkünstlern Königsbergs lebte ein sehr
origineller alter Mann, der Organist Podbielski, der außer seinem
eigentlichen Instrumente der Orgel und dem Flügel, auch die Gambe
mit großer Zartheit, und in der gewichtigen, breiten Manier der
damaligen französischen und italiänischen hohen Schule spielte.
Sein Spiel und besonders seine Fantasien waren fast das Innigste und
Berührendste, was die junge Seele unseres ganz in Musik lebenden
Fritz durchdrang [der Autor schreibt über sich selbst in der 3.
Person]. Podbielski gehörte zu den intimen Freunden seines
Vaters, und wo er den alten etwas mürrischen Mann irgend in der Nähe
seines Instruments fand, ruhte der Kleine nicht mit Bitten und
Schmeicheln und Händeküssen, als bis er ihn zum Spielen brachte.
Selten tat er es aber zu andern Zeiten freiwillig, als tief in der
Nacht, zum Beschluß jeder andern Musik, da sein seelenvolles, oft
begeisterndes Spiel denn aber auch in der heiligen Stille der Nacht
und mit dem hochgespannten Gemüth ganz und innig genossen wurde.
Herr Podbielski war in den meisten
alten Häusern als Lehrer und Virtuos, und eben so sehr als ein
braver Mann von seltener Lebhaftigkeit und von ganz origineller
trockener Laune und Geradheit angesehen und geliebt, und hatte zu den
Häusern und Tafeln der damaligen Großen im Lande freien Zutritt. So
hatte er den Mittag eines Tages, an welchem Abends bei dem Kriegsrath
Lestocq großes Concert seyn sollte, bei dem Minister von Tettau
gegessen und die gebratenen Rebhühner auf der Tafel so delicat
gefunden, daß er seiner Frauen ein Paar davon nach Hause wünschte.
Als man von der etwas langen Tafel aufstand, sorgte die alte
freundliche Dame des Hauses dafür, daß dem Herrn Podbielski, nach
damaliger treuherziger Sitte, ein Paar gebratene Rebhühner in Papier
gewickelt wurden, und er steckte sie mit derselben Bereitwilligkeit
in die breiten tiefen Rocktaschen seines altmodischen französischen
Kleides, mit der wir jetzt ein Paar Bonbons von schönen Händen in
die beiden engen Täschchen unserer modischen schmalen und kurzen
Gilets vertheilen.
Eingedenk, daß er beim Kriegsrath
Lestocq erwartet wurde, und daß ihm kaum noch Zeit genug bliebe, den
sehr weiten Weg dahin zu machen, um zu der für sein Flügelconcert
bestimmten Stunde dort anzulangen, eilte er hin, ohne sich erst
seiner angenehmen Küchenbeute zu entledigen.
Als er dort in den Concertsaal trat,
hatten alle Augen des weiten Damenkreises und ihrer hinter ihnen
eingepferchten Männer und Anbeter, nach geendigter Symphonie lange
schon nach der Thüre hingeblickt, ob Herr Podbielski nicht mit dem
nothwendigen Flügelconcert erschiene, das damals bei einem
ordentlichen Concert für ebenso wesentlich galt, als das Rindfleisch
bei einer guten wohlgeordneten Mahlzeit. Er erschien endlich, und
ward von dem französisch galanten Wirth sogleich zum Flügel
geführt, sein Concert ausgelegt und angefangen. Kaum war er beim
ersten Solo, als die kleinen feinen Windspiele, die damals in keinem
galanten Hause fehlten, und die man eben bis dahin im offenen
Nebenzimmer ruhig gehalten, der angenehmen Bratenwitterung folgten,
und unter den tief auf den Boden
herabhangenden langen Rocktaschen des alten kleinen Mannes den
verborgenen Schatz eifrig beschnüffelten.
Dieser ließ sich dadurch Anfangs in
seiner gravitätischen Ruhe nicht stören, sondern theilte zwischen
den lockern Passagen seines alten Concerts den Hunden bald rechts
bald links erst einzelne Klapse in langsamen Tempo nach und nach
paarweise in stets wachsender Bewegung. Als nun aber die kleinen
lustigen berührigen Gäste immer unverschämter wurden, und die
Klapse rechts und links schon häufiger und kräftiger fielen als die
Passagen selbst, deren Lücken auch gar nicht mehr hinreichen
wollten, sich ihrer Zudringlichkeit zu erwehren, riß er am Ende
eines Solos beide Rebhühner ganz heroisch aus den Taschen, warf sie
den lüsternen Hunden mit einem > da
freßt < hin, und spielte nun ganz gravitätisch
sein Concert zu Ende, ohngeachtet die an den Umschlägen zerrenden
Hunde, die mit der errungenen fetten Beute den Damen unter den langen
damastnen und grosditournen Schleppkleidern und hohlen Buffanten
liefen, große Unruhe und Besorgnis erregten, und unter den hohlen
Kleiderdächern, mit Beobachtung gehörigen Anstands, schwer hervor
zu schaffen waren.<<
Zitat
aus: Johann Friedrich Reichardt, Erinnerungen eines Musikers und
Literaten
Aufbau-Verlag,
Berlin 2002
Anmerkungen:
Johann
Friedrich REICHARDT, *1752 in Königsberg, †1814 in Giebichenstein
bei Halle, seit 1775 Hofkapellmeister bei König Friedrich II. von
Preußen in Berlin. Von König Friedrich Wilhelm II. 1794 ohne
Pension entlassen, siedelte Reichardt nach Giebichenstein bei Halle
über, wo sein Gut zum Treffpunkt vieler bedeutender Künstler wurde.
Von seinen großen Reisen, u.a. nach Paris, Rom, Neapel und Wien, hat
der passionierte Briefschreiber eine eindrucksvolle Korrespondenz
hinterlassen. Unter König Friedrich Wilhelm III. durfte er sich 1797
wieder Hofkapellmeister nennen und wurde an die Berliner Oper
zurückberufen. Preußens neuer König gestattete seiner Gattin,
Königin Luise, bei dem Befürworter einer Bürgerrepublik
Gesangsunterricht zu nehmen.
Einen
entscheidenden Einfluß gewann Immanuel Kant (1724–1804) auf den
jungen Reichardt, als dieser in den Jahren um 1769-70 bei ihm an der
Königsberger Universität studierte. »Dem Hrn. Prof. Kant einzig
und allein verdank ichs, daß ich von meinen frühsten Jugendjahren
an, nie den gewöhnlichen erniedrigenden Weg der meisten Künstler
unserer Zeit betrat, und seinen akademischen Unterricht, den er mir
früh, ganz aus freiem Triebe, antrug, und drey Jahre auf die aller
uneigennützigste Weise gab, dank ich das frühe Glück, die Kunst
von Anfang an aus ihrem wahren höhern Gesichtspunkte beachtet zu
haben und nun das größere Glück, seine unsterblichen Werke mit
Gewinn studiren zu können«, schrieb Reichard später – im
Musikalischen Kunstmagazin 1791 – über diese bedeutsame Zeit. Und
Kant selbst meinte bescheiden in einem Brief vom Oktober 1790 an
seinen einstigen Schüler: „Meine geringen Bemühungen im ersten
philosophischen Unterrichte, welchen Sie bei mir genommen haben, wenn
ich mir schmeicheln darf, dass sie zu der jetzigen rühmlichen
Entwicklung Ihrer Talente etwas beigetragen haben, belohnen sich von
selbst.“
Reichardt
war zweimal verheiratet. Seine erste Frau Juliane Benda war die
Tochter des Komponisten und Kapellmeisters Franz Benda und eine
bekannte Sängerin. Das Paar hatte zwei Söhne und zwei Töchter.
Nachdem seine erste Frau im Kindbett gestorben war, heiratete er 1783
Johanna Alberti (1755–1827). Sie war die Tochter des Diakons und
Dichters Julius Gustav Alberti (1723–1772) aus Hannover. Es war
auch die zweite Ehe seiner Frau, die in erster Ehe mit dem Juristen
und Dichter Peter Wilhelm Hensler (1742–1779) verheiratet war und
einen Sohn und zwei Töchter mit in die Ehe brachte. In der 2. Ehe
wurden ihm fünf Kinder geboren.
Goethe
hat ihm bescheinigt, erst er sei es gewesen, „der
mit Ernst und Stetigkeit meine lyrischen Arbeiten durch Musik ins
Allgemeine förderte“. Der Komponist und Schriftsteller
hat zahlreiche Gedichte von Goethe vertont, ferner die Liedeinlagen
im „Wilhelm Meister“ sowie
eine Orchestermusik zum „Egmont“
komponiert. Reichardt hatte großen Erfolg in Berlin mit
Singspielen nach Libretti von Goethe.
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Johann
Ludwig (von) L´ESTOCQ, *1712 in Absinthkeim bei Königsberg, †1779
in Königsberg, Jurist, Professor der Rechte an der Albertina,
Kriegsrat.
L´Estocq
war Ehrenmitglied der Königlichen Deutschen Gesellschaft - eine
Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache, die auf den Leipziger
Literaturprofessor Johann Christoph Gottsched zurückgeht, der im
Jahre 1700 in Juditten bei Königsberg geboren wurde. Indem L´Estocq
1745 Maria Eleonora Hintzin, Witwe des Buchdruckers Johann Friedrich
Reußner († 22. Dezember 1742), heiratete, kam er in den Besitz der
Reußnerischen Buchdruckerei, die er bis 1750 behielt. 1750 stieg er
in die vierte Professur auf, war 1751 dritter Professor und zugleich
Oberrichter der Stadt Königsberg. 1764 übernahm er die zweite
ordentliche Professur der Rechte und wurde im Jahr 1771 erster
Professor und 1778 Kanzler der Königsberger Albertina. Neben seiner
Professur beteiligte er sich auch an organisatorischen Aufgaben der
Königsberger Universität. Er war einige Jahre Rektor und Prorektor
derselben.
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Aus
der Familie PODBIELSKI stammten einige in Königsberg stadtbekannte
Musiker und Organisten:
Jacob
1650 – 1709, Organist an der Schloßkirche, an der
Löbenichtschen und der Altstädtischen Kirche
Christian
1683 – 1753, Organist an der Löbenichtschen Kirche, am Dom,
spielte meisterhaft auf dem Flügel und der Gambe, komponierte auch
weltliche Musik
Gottfried
1689 – 1763, Organist an der Altstädtischen Kirche, am Dom
Christian
Wilhelm 1741 – 1792, Domorganist, komponierte
Sonaten in der Art von C.Ph.E. Bach, gab Klavierkonzerte in
Privathäusern und Musikunterricht; einer seiner Schüler war E.T.A.
Hoffmann
In
der oben zitierten Geschichte kann also nur Gottfried Podbielski
gemeint sein, den Johann Gottfried Reichardt in seiner Kindheit
und Jugend noch erlebt hat.
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Der
Sohn des Philosophen, Schriftstellers und Kantfreundes Johann Georg
HAMANN (1730-88), der Rektor des Altstädtischen Gymnsasiums Johann
Michael HAMANN (1769- 1813) war mit Caroline Amalie PODBIELSKI
(1770-1812) verheiratet, einer Tochter von Christian Wilhelm
PODBIELSKI. Außerdem war Johann Georg Hamann wiederum eng befreundet
mit Johann Friedrich Reichardt.
Ein
Sohn aus der Ehe des Joh. Michael Hamann mit Caroline Amalie
Podbielski war Friedrich Otto Hamann (1802-61), der später als
Direktor des Friedrichsgymnasiums in Gumbinnen wirkte.
Eine
andere PODBIELSKI-Tochter war mit einem Königsberger Kunst- und
Miniaturmaler verehelicht: Anton Reich (1700-64) - dessen
Schwiegersohn Ernst Gottlieb Falck (1731-91), ein Prediger der
reformierten Gemeinde, stammte aus einer Danziger Familie von
Kupferstechern und Goldschmieden. Die Urgroßmutter Ernst Gottlieb
Falcks war eine geborene MERCATOR und Enkelin des berühmten
Duisburger Kartographen Gerhard MERCATOR (1512-94).
Johann Daniel Falck |
Der
Großvater der Constantia Chailloux, Mutter des obengenannten Falck,
kam als hugenottischer Réfugié über Genf nach Berlin. Jean
Chaillou(x) (1670-1723) wurde in der Berliner Residenz
churfürstlicher und ab 1701, nach der spektakulären Königsberger
Krönung seines royalen Auftraggebers, auch königlicher
Kapellmeister – somit ein Vorgänger Reichardts beim Großvater des
Großen Friedrich.
©
Viktor H. Haupt