Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Dienstag, 6. Oktober 2015

Königsberger Skizzen 1841

Ich zitiere hier aus den sehr lesenswerten "Königsberger Skizzen" von Karl Rosenkrantz, geschrieben 1841. Karl Rosenkrantz war der dritte Nachfolger auf dem Lehrstuhl Kants in Königsberg. Näheres zu seinem Leben findet man hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Rosenkranz 

In einer Beschreibung über den Königsberger Wall finde ich diese Stelle wegen der überraschend aktuellen Bezüge bemerkenswert:
> Wenn man aber darauf ausgeht, die Grenzen der Staaten mit Festungslinien eifriger als je zu verwahren, so mag auch dies militairisch ganz richtig sein. Aber traurig ist es auf jeden Fall, daß die Völker noch so viel kriegerische Zukunft in sich hegen und die Trennung von einander eher zu begünstigen als zu vernichten scheinen. ... Aber thu´ich den Völkern vielleicht unrecht? Sollt´ich etwa sagen, die Regierungen? Aber die Regierungen sind doch am Ende nicht von den Völkern, die Völker nicht von den Regierungen zu scheiden. Wann werden die Furien des Nationalhasses, der Eroberungssucht, der Herrschwuth, der Idiotismus nationaler Eitelkeiten aufhören, die Menschheit zu würgen? Denn wenn Ihr auch das Kriegswesen noch so verfeinert und den unmittelbaren Mord des Menschen durch den Menschen noch so sehr versteckt, auf das  T ö d t e n  kommt es doch wesentlich an.
Wohlgemerkt, das schreibt ein Königsberger Professor 1841 ! Erschreckenderweise erscheinen diese Zeilen wie für uns im Hier und Heute verfaßt, wenn man Nachrichten von versehentlich bombardierten Krankenhäusern in Afghanistan, von unzähligen tödlichen Drohneneinsätzen, von Waffenlieferungen in Krisengebiete und von Diskussionen um Soldateneinsätze in Syrien und andernorts vernehmen muss. Von den dadurch ausgelösten Flüchtlingsströmen und den kritikwürdigen Abwehrmaßnahmen unserer Regierung und anderer europäischen Staaten gar nicht zu reden... 

Karl Rosenkranz verstand es, sehr unterhaltsam das Leben in Königsberg der ersten Hälfte des 19. Jh. zu beschreiben. Ich gewinne dadurch eine lebendigere Vorstellung wie meine Vorfahren zu jener Zeit gelebt haben (könnten). Daher finde ich die Texte so interessant zu lesen.

> Ständisches Leben in Königsberg
... ich habe bereits auseinandergesetzt, daß Königsberg eine Stadt ist, in welcher gegenwärtig kein Stand zu einer Vorherrschaft über die andern gelangen kann. Der gewerbliche und kaufmännische Stand, der Beamten- und Gelehrtenstand, das Militair, halten sich ein schönes Gleichgewicht. Unterscheidet man aber die Stände nach den Abstufungen: 1) des Pöbels, 2) des Mittelstandes, 3) der Vornehmen, wie neuerlich Siemens in seiner Schrift über die Elemente des Staatsverbandes gethan, so ist auch unter dieser Auffassung eine merkwürdige Ausgleichung der Differenz vorhanden, indem alsdann das Element des Pöbels mit dem der Vornehmen dem Quantum nach die eine, das des Mittelstandes die andere Hälfte einnehmen dürfte. Ich beschränke mich, um nicht anderwärts schon gesagtes zu wiederholen, auf diese allgemeine Bemerkung und füge nur noch hinzu, daß, wenn die Verschiedenartigkeit der Stände hier eine universelle ist, der Verstand, den ich als das zweite charakteristische Merkmal Königsbergs hervorhob, sich in dem Verhältnis der Stände untereinander als eine Forderung der Gleichheit geltend macht. Wenn sich ein Stand irgendwie über den andern zu erheben Miene macht, so kann er gewiß sein, daß die Kritik über und die Opposition gegen ihn nicht lange ausbleiben werde. Bis in die geringsten Schattierungen hinein beobachtet jener scharfe nordische Verstand jede Abweichung vom Gewöhnlichen. Eine allseitige Aufmerksamkeit ist wach und stempelt sogleich ein signalisirendes Stichwort, das bei Veranlassung zur Reibung losbricht. Das Volk schimpft den Juden: Heehnerfräter (Hühnerfresser), weil es ihn auf dem Markt die besten und meisten Hühner fortkaufen und eigenhändig nach Hause tragen sieht. Es schimpft den elegant Gekleideten: Kookefräter (Kuchenfresser), weil es denselben in den Conditoreien so viel aus- und eingehen sieht. - Als die Tracht der polnischen Kazawaika, eines bis zum Knie reichenden weiblichen Oberrocks mit weiten Aermeln, vor mehreren Jahren wieder stark in Mode kam, ging eine Dame in einem vom Mittelpunct der Stadt entfernteren Theile mit einer solchen Kleidung in rother Farbe. Sogleich fiel sie auf. Der Volkswitz regte sich. Ein Junge hielt ihr in der Queer einen Stock vor und der Chor brüllte: Spring, Apke (Äffchen), spring! Einer Augenkrankheit wegen mußte ich eine Zeitlang eine Mütze mit einem sehr großen Schirm tragen. In den entlegeneren Straßen erregte dies sogleich Aufmerksamkeit und ich hörte nicht selten die Jungen halb spöttisch sich zurufen: Kiek, datt´s en Scherm! - In dem Winter von 1839 auf 1840 trug man unaufhörlich Gerüchte umher von Reibungen, zu welchen beleidigender Uebermuth des Adels, besonders des militairischen, Gelegenheit auf Bällen u.s.f. gegeben haben sollte. Die gebildeten Adeligen bedauerten dies außerordentlich. Es erschienen Artikel in den Zeitungen, welche daran erinnerten, daß nicht der äußere und zufällige Unterschied des Adelig- und Nicht-Adeligseins, sondern allein der innere der edlen oder unedlen Gesinnung tonangebend sein dürfte. Es ward an die Einheit der Bildung, an die Humanität appellirt. ...
Obwohl nun aber der Verstand so viel hier auf die Gleichheit hält, so muß man doch nicht glauben, daß deswegen nicht die abgestufteste Scala von Existenzen socialer Zustände bei uns zu finden wäre. Wir haben so gut unsere exclusive Gesellschaft, als andere Residenzen. Wir haben so gut unsere distinguirenden Manieren, unsere strohgelben Glacé-Handschuh, unser Eau de Portugal, unsere aristocratisch murmelnden Sprecharten, unser Gemisch von Deutsch und Französisch, unsere crème, als dies anderwärts gefunden wird. Nur bei uns wird durch die Macht des bürgerlichen Reichthums, der Bildung, durch die Isolirung der Lage der Stadt, die gebieterisch darauf dringt, nicht in unweiser Vornehmheit sich so manchen leiblichen und geistigen Genuß zu verscherzen, die verknöchernde Erstarrung der geschloßeneren Kreise wohl mehr, als in andern Großstädten, verhütet. Die eigentlich gebildete Gesellschaft trifft sich fast überall in den größeren Cirkeln als die nämliche wieder. Die Kreise, welche ihr Centrum in einer sehr entschiedenen äußeren Stellung haben, öffnen sich mehr gegen einander, schwanken in einander hinüber. Dadurch ergiebt sich eine allgemeine Freundlichkeit der Stände gegen einander, die höchst wohltuend und für Königsberg eine ehrenvolle Auszeichnung ist.
Im Besuch öffentlicher Orte dagegen äußert sich eine größere Abscheidung der Stände, als im südlichen Deutschland und in manchen größeren Norddeutschen Städten herrscht. Im südlichen Deutschland lebt man im Wirthshause. In Nord-Deutschland waltet die häusliche Abgeschlossenheit, das Stiften geschlossener Gesellschaften, das Clubwesen vor. In Königsberg fehlt wohl beinah keine Form solcher Associationen, die der Grund sind, daß Anstalten, welche auf den Besuch ALLER rechnen, fast gar nicht da sind. Das Theater und die Concertsääle, die jeder für sein Geld besuchen kann, um einen passiven Genuß zu haben, nehme ich, wie sich von selbst versteht, aus. Ich habe hier nur solche Anstalten im Auge, in denen sich der Einzelne auch activ durch Gespräch und Spiel äußern kann. In ganz Königsberg giebt es noch kein wahrhaftes Kaffeehaus, wo in einer Reihe von Zimmern für Billard, Schach, Kartenspiel, Damenbrett, Zeitungs- und Journallectüre, vertrauliches Schwatzen u.s.f. ein angenehmer Aufenthalt und stete Gesellschaft zu finden wäre. Bald fehlt dies, bald jenes wesentliche Requisit den sogenannten hiesigen Kaffeehäusern. Wo sich dieses alles aber findet, da gehört es sofort einer geschlossenen Gesellschaft, der Börsenhalle, der Loge, dem Officiercasino u.s.f. Um daher eine nicht geschlossenen Gesellschaftsort besuchen zu können, muß man sich unterrichten lassen, ob es anständig sei, dahin zu gehen. Diese Anständigkeit richtet sich eben nach dem Stand des Besuchenden. Wo der Lieutenant noch hingehen darf, kann es der Major nicht mehr, wo noch der Referendarius, nicht mehr der Rath u.s.f. Der Besuchende muß sich also orientiren. Er will wissen, ob er eine ihm in socialer Beziehung homogene oder heterogene Gesellschaft findet. ... Um nun solche nicht durch den Privatbesitz oder durch eine geschlossenen Gesellschaft geheiligten Orte ohne Gefährde des Anstandes besuchen zu können, muß man wissen, zu welchen Tageszeiten und an welchen Tagen jene Vogelscheuche des Anstandes nicht genire; z.B. gilt es für nicht anständig -unanständig wagt man nicht zu sagen-, am Montag Maraunen zu besuchen, weil dann "Alles" oder "das Volk" draußen sei. Am Dienstag kannst Du hingehen, ohne Angst, Dein sociales Gewissen dadurch zu beflecken, daß an dem andern Tisch etwa ein Handwerksbursche mit seinem Mädchen sitzt und seine Pfeife in den blauen Himmel dampft. <

> Ein Morgengang am Bohlenwerk [im Hafen]
... Am Ufer auf dem Bohlenwerk sieht es bunt aus. Waarenballen, Talgglocken, Zuckerhüte, Papierstöße, Roheisen, Eisengeschirr, Flachs- und Hanfballen, Fässer, Häringtonnen u.s.w. bedecken den Boden. Deutsch, Englisch, Holländisch, Polnisch, Dänisch wird durcheinander gesprochen. Die Aufseher am Bohlenwerk, die Brückenwärter an den Durchlassen, reden, glaube ich, schon die allgemeine Mischsprache, welche Charles Nodier als das Resultat des steigenden Verkehrs der Nationen prophezeiet hat. Sie wissen in allen Zungen sich mit allen zu verständigen. Eben so mannigfaltig ist die Tracht. Obwohl die Matrosen aller Nationen viel Gleichartiges haben, so sieht man doch auch merkwürdige Unterschiede; die Holländischen lieben rothe Jacken, die oft zum Trocknen aushängen, die Nordamerikaner dunkel gestreifte. Die Holländischen scheeren sich den Bart am Kinn glatt weg, die Engländer und Amerikaner lassen sich gern einen Kranzbart wachsen; die Holländer lieben weiße Wäsche, die Engländer, Norweger, Amerikaner gehen außerordentlich solide gekleidet, haben oft Hemden, Vorhemden, Halstücher von blau und rosaroth quarirtem Nanking. Silberne Ohrringe tragen fast alle Matrosen, gewöhnlich aber nur an einem Ohrzipfel, was ihnen unter dem breitkrämpigten, schwarzlakirten Sturmhut, der in den Nacken hin wie ein Dach abläuft, ein recht pfiffiges Ansehen giebt. Südamerikanische, Spanische und Französische Schiffe kommen selten her.
Eines Nachmittags holte mich ein Freund zum Spaziergang ab und wollte mir ein großes Französisches Schiff zeigen. Er wunderte sich, daß ich noch nichts von demselben gehört, es noch gar nicht bemerkt hätte. An der Ecke, wo die Schiffe in dem Canal, der von der Insel Venedig ausläuft, gekantet und kalfatert werden, lag einer der größten und schönsten Zweimaster, die ich je gesehen. Er ging schon tief in Wasser und hatte beinah volle Ladung. Auf den Rahen hingen schon die Matrosen, die Segel zu ordnen. Kräftige, untersetzte Gestalten, kernige Gesichter. Auf dem Kopf trugen sie von rothem Wollengarn gewebte leichte Mützen. Mit großen Buchstaben lasen wir den Namen PROVIDENCE, konnten aber den Namen des Heimatorthes nicht lesen, weil der Spiegel des Schiffes über die Ecke hinauslag. Nun benahmen wir uns recht albern Deutsch. Wir bewunderten alles an dem Schiff und den Leuthen. Wir bemerkten in den Bewegungen so viel Grazie, in den Augen so viel Feuer, in dem Munde so viel Spirituelles. Wir fanden in den rothen Mützen etwas Jacobinismus, in der ganzen Haltung aber den freien Mann, der die Charte zur Wahrheit macht. Unsere Memeler, Danziger, Stettiner, vollends Königsberger traten uns weit zurück. Auf einmal wurde ich aufmerksam. Von dem einen Mastkorb rief es herunter: "Hennerich, mäk doch die Line aff!" Was, rief ich lachend, diese Franzosen sprechen ja vortrefflich Plattdeutsch? Mein Freund war über die verrätherische Vermuthung, die in diesen Worten dämmerte, halb empört. Er ging auf den Matrosen, der die Leine von dem Pfahl abgeschlungen und über Bord geworfen hatte, zu und sagte sehr hoflich:"Monsieur, Vous êtez Français, n´est ce pas? De quelle ville venez Vous à present?" Antwort: "Watt meene Se?" Nun mußte auch mein Freund lächeln und platzte heraus:"Sie kommen nicht aus Frankreich?" - "Nee, ut Memel." - "Aber das Schiff hat doch einen Französischen Namen?" - Nun belehrte uns der ehrliche Preuße, daß Providence eben nur so ein Name sei, der allerdings eine Beziehung zu Frankreich habe, weil das Schiff zuweilen auch dahin Ladung bringe; es sei aber in Memel zu Hause. Was sind wir Deutsche doch für illusionssüchtige Menschen, besonders wenn es Frankreich gilt! ...<

> Land- und Strandleben
In der kurzen Sommerzeit sucht der Nordische Mensch die Freundlichkeit der Natur so viel wie möglich zu genießen, denn er weiß, daß ein langer, trüber Winter folgt. Königsberg hat viele Häuser mit schönen Gärten, namentlich auf dem Steindamm, auf der Königsstraße und dem Sack- und Tragheim, also in den jüngeren Stadtteilen. Aber die älteren entbehren nicht nur der Gärten, sondern, wie in dem Capitel von der Architektur gezeigt worden, selbst der Höfe. Hier wird also das Bedürfniß, der Natur sich zu nähern, zur sommerlichen Zeit, namentlich für die Kinder, um so größer. Und ein Garten ist doch nur ein Garten, den Gebäude einengen oder der früh am Abend kalt und nässig wird oder worinnen die Kinder die zierlichen Beete verderben könnten. Daher ist denn in Königsberg der Hang zum Landleben sehr groß geworden und von der Fastnacht an beginnt schon die Frage, ob man auf das Land, besonders den Strand ziehen werde, ein stehendes Element der Unterhaltung auszumachen. Man miethet Sommerwohnungen in der unmittelbaren Umgebung der Stadt, auf den Huben und in den Dörfern Ponarth, Juditten, Aaweiden u.s.w. oder man zieht an die See.
Früherhin sollen die Königsberger gar nicht recht gewußt haben, welch schöne Gegenden der Strand von Kranz bis Pillau enthält. Erst seit der Franzosenzeit hat man dieselben, so zu sagen, entdeckt und sie zum Gebrauch von Seebädern eingerichtet. Der Hauptbadeort ist für die Königsberger Kranz, ein Dorf, das öfter an 400 Gästen zählt, einen Arzt, eine Apotheke, Badewagen u.s.w. hat. Der Wellenschlag ist hier am stärksten, das Ufer hoch, die Gegend aber flach. Dann folgt Rantau, Neukuhren, Wangenkrug, Lapöhnen, Rauschen, Georgswalde, Warnicken mit seiner berühmten Schlucht, Kleinkuhren mit seinen malerischen Bergen, u.s.w. Ueberall sieht man hier in den Dörfern Zelte von Leinwand aufgeschlagen, begegnet man Spazierfahrenden, Reitern und Reiterinnen, Lustwandelnden. Am Ufer der See sind Badehütten aus Stroh errichtet, die oft aussehen als wäre ein Dorf von Negern hieherverpflanzt. Der Eingang der Hütte ist nach der mehrentheils bergigten Landseite zugekehrt, die geschlossene Hinterwand nach der Seeseite und während man sich entkleidet, vernimmt man hinter sich das wundervolle Rauschen der Wellen als Einladung, in ihnen sich Gesundheit, besonders kräftigen Appetit zu holen. Tausend Spaß würzt das Bad. Wer nicht schwimmen kann, muß sich an einem Tau halten, das an mehreren eingerammten Pfählen befestigt ist. Doch ist dies nur bei stärkerem Wellenschlag oder bei unsicher gewordenen oder steinigtem Grunde, der nicht fest zu stehen vergönnt, nothwendig. ... Ein Lieblingsvergnügen Vieler ist, sich in den Sand der Brandung zu legen und die brechende Welle über sich fortspülen zu lassen. ... Es ist zu bedauern, daß die Damen ganz gegen die Forderung der Gesundheit auch bei uns schon der Prüderie huldigen, mit Badekleidern in die See zu gehen, bei deren Abziehen sie sich nicht selten erkälten, zu geschweigen, daß diese Hülle das Bad unkräftig und unbequem macht. Sind die Holden denn nicht vor Unverschämten durch ausgesonderte Stunden, durch bergigte Ufer und durch die mitgenommenen Badefrauen hinlänglich geschützt und würde nicht Artemis noch jetzt die Frevler wie den Aktäon bestrafen? Wurde nicht in Kranz, als doch einst Beschwerden gegen einige lorgnettirende Stutzer einliefen, zu ihrer Hut ein kurzsichtiger Gensdarm aufgestellt?
Jeder Königsberger hat ein Lieblingsdorf, wohin er zieht, dessen Lage, dessen Bad, Gesellschaft er herausstreicht. Im Bade selbst ist Nichts als vom Bade, von der See die Rede. ... Der Städter macht hier einen Cultus aus der Natur, in welchem er sich auch in Beschränktheit der Wohnung und andern Dingen so manches lachend gefallen läßt, was er in der Stadt übel vermissen würde. Er tritt hier auch den Beschäftigungen der Strandbauern näher. Diese sind zu gleicher Zeit 1) Ackerbauer, 2) Fischer, die besonders Dorsche, Flundern und Strömlinge fangen, 3) Bernstein-fischer und -gräber. Diese letztere Beschäftigung hat etwas sehr Aufregendes zur Folge, weil sie mit einer ähnlichen Spannung verknüpft ist, wie das Spiel in der Lotterie. Wochen vergehen ohne sonderliche Ausbeute und plötzlich bringt eine Stunde einen Gewinn von fünf bis sechshundert Thalern. Dazu kommt noch der Miethzins, den sie im Sommer von den Städtern ziehen, nebst den hohen Preisen für Milch und Butter, die sie ihnen verkaufen. Man sieht daher, wie sie die Wohnungen verbessern, wie sie größere Scheiben in die Fenster bringen, die Laden mit freundlichem Grün statt des früher düstern Roth streichen u.s.w. Möge denn mit dem Wohlstande auch das sittliche Leben emporblühen und nicht der Dämon der Habsucht einerseits, der Genußsucht andrerseits sich der Dörfer bemeistern! <

> Pregelschlittenfahrt
Das Seebad und das spazierende Umherirren in dem lieblichen Hügellande der Samlandischen Küste mit seinen schönen Wäldern, worinnen man noch Hasen und Rehe und Hirsche und wilde Schweine und Elennthiere findet, macht also für den Königsberger den Gipfel des sommerlichen Naturgenusses aus. Ausgerüstet mit den Erinnerungen an die Strandparthien in Kuhren, Rauschen, nach Kraam, Plinken, nach dem Borstenstein, nach der Finkenmühle, nach der Gausuppschlucht u.s.f. geht man in den langen Winter hinein. Ist dieser nicht ein unausstehliches Schlackerwetter, worin man durch steten Wechsel von Frost und Aufthauen, von Schnee und Regen in endlosem Nebel lebt, mindestens bei bezogenem Himmel, der das Bild der Sonne oft monatelang verschleiert, ist er vielmehr ein guter Winter, so bietet sich abermals ein großer Genuß. Der Pregel friert dann zu, der Schnee fällt schuhhoch und macht gute Schlittenbahn, die Sonne aber scheint so hell und freudig und der Rauch quillt aus den Schornsteinen so gerade und kraftvoll in den hellblauen Himmel, die Schritte der Menschen und Thiere knirren so vernehmlich auf dem festen Schneeboden, die Raben und Krähen schreien munter, daß man ganz aufgeräumt wird. Zuweilen hält dieses "klare" Winterwetter acht bis neun Wochen, nur von einzelnen Sturm- und Schneetagen unterbrochen, an. Dann ist für die Königsberger die Fahrt auf dem Pregel eine Hauptlust. Zwar läuft man auch, besonders auf dem Schloßteich, viel Schlittschuh, aber doch nicht so viel und nicht so schön, als im nordwestlichen Deutschland. Dagegen stehen unten am Kai, da, wo die Fähre zu gehen pflegt, hunderte von Schlitten, mit Pferden bespannt. Von hier fährt man gewöhnlich nach Holstein, Kaffee zu trinken. Der ganze Strom erklingt dann von den Hufen der Pferde, die mit Pfeilesschnelle getrieben werden, es einander zuvor zu thun, von dem Geläut der Schellen und dem Geknall der Peitschen. Neben den Fahrenden schiebt sich die Masse der schaulustigen Spaziergänger hin und her, die gewöhnlich bis zur Kosse, einem Kaffeehause an dem nach Holstein führenden Damm, wallfahrten. Der Anblick der vielen hin und her eilenden Schlitten, der flinken Spaziergänger in ihren dunklen Mänteln und Pelzen auf dem weißen Grunde, von dem sich die Gestalten höchst malerisch abheben, hat viel Eigenthümliches. Dazu kommen die großen Frachtwagen, die von Pillau und landeinwärts von andern Orten kommen und gehen. Denn der anhaltende Frost fördert den Verkehr des Nordens außerordentlich und Königsberg säufzt daher oft über das Stiemwetter, worunter man ein Durcheinander von Schnee, Regen und Wind versteht und über den im November und December so häufigen Schmutz, weil derselbe die Wege unfahrbar macht und die Zufuhr an Lebensmitteln abschneidet. Ein Frost von acht bis zehn Grad ist uns daher das angenehmste Winterwetter. <

> Kant´s Haus
Ein großer Mann giebt uns eine unendliche Beschäftigung. Nicht nur in die Tiefe führt er uns, auch in die Oberfläche. Aber nicht zur Oberfläche als Fläche, sondern zu ihr, wie sich die Tiefe bis zu ihr hin ausgedehnt hat, wie sie, auch in ihrer Aeußerlichkeit und Zersplitterung, noch gegenwärtig ist. Die Nothwendigkeit eines solchen hervorragenden Geistes scheint alle Zufälligkeit des Lebens und Daseins aufzuheben und wir werden versucht, uns die Harmonie des Innern mit dem Aeußern bei ihm bis in die geringsten Fasern hin zu entwickeln. Diese Thätigkeit ist allerdings mehr ein Spiel der Phantasie, allein man darf der Combination des Witzes bei einer solchen Veranlassung wohl schon einige Freiheit geben und muß nicht jedes seiner Wagnisse der Inquisitionstortur der kritischen Altklugheit unterwerfen wollen.
Wenn wir von Napoleons Feldzügen gesprochen haben, so bleiben wir zuletzt bei seinem dreieckigen Hut stehen. Haben wir die Weisheit und den Heroismus Friedrichs des Großen bewundert, so vergessen wir den Krückstock des alten Fritz gewiß nicht. Bei Rousseau darf die Pudelmütze, bei Jean Paul der weiße Pudel nicht unerwähnt bleiben. Was aber in der Erscheinung eines Menschen ebenfalls von charakteristischer Wichtigkeit ist, obwohl es nicht so unmittelbar, als Kleidung und Geräth mit ihm zusammenhängt, das ist unstreitig seine Wohnung.
Im weitesten Sinn ist die Wohnung freilich nur dann völlig charakteristisch, wenn der Mensch sie sich selbst erbauet, wenn er nicht zur Miethe gezwungen und damit oft der Unangemessenheit des Aeußern zu seinem Innern überliefert ist. ...
Betrachten wir aber die Lage des Kant´schen Hauses näher, so zeigt sich sogleich das Interessante, daß die Riesenthürme des Schlosses die nächsten Nachbarn sind. Das Schloß weist uns auf die Zeit hin, als der Orden der Deutschen Ritter, freilich mit dem Schwert in der Faust, Christliches Leben und Germanische Sitte in diesen Gegenden begründete. Noch zunächst an das Gärtchen des Kant´schen Hauses stößt der Thurm, der Uebelthäter gefangen hält. In dieser sogenannten Schützerei sorgt die äußere Gewalt für die Aufrechterhaltung der Gesetze der practischen Vernunft. Gegen die colossalen Mauern und Zinnen des Thurms ist Kant´s Haus unscheinbar, stellt damit aber das Wesen unserer Zeit dar, welche nicht sowohl durch äußere Gewalt, als durch Bildung des Geistes zu wirken sucht; der Geist ist etwas Unscheinbares und zuletzt doch der Alles Bewältigende.
Indem wir so den Ritter der Philosophie mit dem Schwert der Wahrheit den alten eisernen Helden anschließen, indem wir an den äußerlichen Mittelpunkt der Geschichte Preußens das Hauptresultat seiner neueren nachbarlich angrenzen sehen, fällt uns weiterhin das Alleinleben des Kant´schen Hauses auf und auch dies könnten wir symbolisch erklären. Der Philosoph bekümmert sich zwar um Alles. Er ist die Universalcopula der Bildung, der Mensch, der mit allen Existenzen Gemeinschaft macht. Er sucht Alles für die Wissenschaft zu erobern und sich immer in der Mitte des Universums zu halten. Aber er thut es zugleich auf eine eigenthümliche, auf eine freie und selbständige Weise. Er darf sich nicht der Meinung des Tages überlassen; mitten in der Geselligkeit muß er eine reservatio mentalis im edelsten Sinn haben, nicht von herrschenden Vorurtheilen sich anstecken zu lassen. ... Kant´s Haus ist nicht nur von den Seiten her frei, sondern läßt auch den Blick auf der Rück- und Vorderseite, wo es auch eine Gartenansicht darbietet, möglichst ungehindert schweifen. Der Philosoph darf sich die Aussicht nicht verbauen lassen.
Kant besaß aber nicht nur ein eigenes Haus, was weder von Schelling noch von Hegel gesagt werden kann, die immer abhängige Miethwohner geblieben sind, sondern auch einen Garten dabei. Einige der kräftigsten Bäume, die noch gezeigt werden, hat er selbst gepflanzt. Dieser Zug ist wiederum sehr schön. Die Philosophie muß immer auf das gehen, Was in den Dingen sich gleich bleibt. Auch von dem Geist soll sie uns doch endlich das Wesen finden lassen, das in aller Veränderung sich nie untreu wird, sondern nur eine angemessene Gestaltung sucht. ...
Treten wir nun in Kant´s Haus selbst ein, so finden wir es für einen Junggesellen ganz behaglich und geräumig. die niedrigen Decken harmoniren mit Kant´s persönlicher Bescheidenheit sehr gut. Man hätte dieses Haus für die Universität kaufen und dem jedesmaligen Inhaber des philosophischen Lehrstuhls als Freiwohnung geben sollen. Zwar vererbt sich der Geist nicht wie ein Haus, aber eine Anregung entströmt doch auch solchen Aeußerlichkeiten und jedenfalls würde keiner der Nachfolger Kant´s eine solche Gunst unangenehm empfunden haben. Die Straße ist ruhig und doch nicht todt; die Lage zurückgezogen, aber so, daß sie nach allen Seiten hin die bequemsten Verbindungscanäle mit allen Hauptstraßen , Hauptplätzen der Stadt eröffnet. In diesem Hause hätte man ein Zimmer dazu arrangieren sollen, die Werke Kant´s in allen Ausgaben, seine als Manuscript nachgelassenen Schriften und Briefe, die Uebersetzungen seiner Werke in fremde Sprachen, die Schriften über Kant´sche Philosophie, genug, eine Bibliotheca Kantiana, außerdem eine Büste Kant´s, alle Bildnisse und Reliquien von ihm, z.B. seinen Zopf und Spazierstock, gegenwärtig im Besitz des Herrn Professor Schubert, aufzustellen. Solche problematischen Gedanken fielen mir ein, als ich auf der Universitätsbibliothek zu Prag Mozart auf solche Weise verherrlicht sah.
Hier könnte ich meine Betrachtungen zu Kant´s Haus bereits beschließen, schienen nicht einige seiner ferneren Schicksale noch einer kurzen Nachricht zu bedürfen. Es gehört gegenwärtig einem Zahnarzt Döbbelin, der es 1835 kaufte, restaurirte und mit einer marmornen Denktafel schmückte, auf deren dunkelm Grunde mit goldenen Buchstaben Kant´s Name steht. Gegen Zahnschmerzen richtet die Macht des Gemüths, der Kant eine eigene Abhandlung widmete, wenig oder nichts aus. Der Zahnarzt ist daher in Kant´s Hause eine artige Ironie. ...
Indem uns diese verschiedenen Metamorphosen des Kant´schen Hauses vorübergehen, dämmert uns auch wohl die Zukunft entgegen, wo es vielleicht gar nicht mehr existiren wird. Ein Neubau, eine Feuersbrunst kann seine Stätte verwischen. Schon vor vielen Jahren ist von einem Bürger hiesiger Stadt an den Magistrat die Bitte eingegangen, die Straße, worin dies Haus steht, Kant´s Straße zu nennen. ... Die Straße des Kant´schen Hauses hat einen recht vornehmen Namen: Prinzeßstraße. Aber Prinzessinnen überhaupt sind so etwas Gewöhnliches, als Prinzessinnen, die Philosophie studierten, wie Christine von Schweden, Charlotte von Preußen, etwas Ungewöhnliches. Ein Kant hingegen ist eine Seltenheit, wie nur Jahrhunderte sie zeitigen. Dazu kommt noch, daß wir hier nicht einmal Prinzessinnen haben, so ein großer Ueberfluß daran auch in der Welt ist, für uns würde daher die Benennung Kant´s Straße eine lebendige, tief eingreifende sein.
Da nun unsere Zeit den Cultus des Genius so viel Monumente widmet, so würde es gewiß sehr zweckmäßig sein, auf jenen so leicht ausführbaren Vorschlag einer Umtaufung des Straßennamens zurückzukommen. Auf alle Fälle soll uns dies Häuschen mit seinem idyllisch bürgerlichen Antlitz, mit seinem kleinen beschaulichen Garten, auf alle Fälle soll uns die Wohnung, welche Kant der Vernunft begründet und die Straße, die er der Freiheit eröffnet hat, theuer sein. <

Zitiert aus: Königsberger Skizzen von Karl Rosenkranz, Nikolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1991

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