Genealogische Notizen

Familienforschung kann spannend sein wie ein Kriminalroman. Wir möchten Euch teilhaben lassen an den aufregenden Geschichten, die wir in Kirchenbüchern und Archiven ausgraben. Taucht ein mit uns in vergangene Epochen und rätselhafte Verwicklungen, historische Lebensumstände und die Geschichte einer Region, die es heute so nicht mehr gibt: das frühere Ostpreußen.

Freitag, 25. November 2011

Erinnerungen an den Dorfkrug in Stombeck

Betty Schweichler 1938
Von verschiedenen Lesern meiner BLOG-Beiträge wurde ich gefragt, was denn in einem ostpreußischen Dorfkrug früher so getrunken wurde. Meine vor einiger Zeit erschienenen Geschichten über den Dorfkrug in Stombeck beleuchten weit in der Vergangenheit liegende Zeitumstände. Interessant ist aber auch, wie die Leute z. B. in den 1930er Jahren gelebt und gefeiert haben. Hierzu habe ich als Zeitzeugin meine Mutter befragt (Betty geb. Schweichler *1932 in Stombeck). Das hat sie berichtet:

Das Getränkeangebot:
Das Bier kam aus Königsberg-Ponarth. Die Bierflaschen trugen auf dem Verschluss die Signatur JPS (Brauerei Johann Philipp Schifferdecker). Im Volksmund hieß die Abkürzung auch: „Jeder Ponarther säuft“. Für den täglichen Bedarf gab es Flaschenbier. Zu größeren Veranstaltungen wurden Bierfässer bestellt.

Nicht-alkoholische Getränke:
Zitronen-Brause und Himbeer-Brause (mit echtem! Geschmack)
dunkles Bier/ Malzbier

Hochprozentiges - hauptsächlich von Teucke & Koenig aus Königsberg:
Korn
Rum (überwiegend für Grog)
Weinbrand (trank man gern mit einem Zuckerwürfel und Kaffeebohne)
Charlotte & Kurt Schweichler
Königsberger Kümmel

Wein und Sekt – nur für besondere Veranstaltungen

Liköre:
Königsberger Kaffeelikör
Aprikosen-Brandy
Kirsch mit Rum
Escorial Grün
Pfefferminzlikör
Bärenfang
Danziger Goldwasser

Neben den regelmäßigen Festen (Pfingsball, Feuerwehrfest, Fischerball) gab es Familienfeiern im Krug. Hochzeiten fanden hier statt, weil die privaten Wohnverhältnisse oft nicht ausreichten für viele Gäste. Für solche Feste wurde das Getränkeangebot den Wünschen der Gäste angepaßt und besonderes eingekauft. Dann gab es z.B. Sekt und Wein, aber auch „feinere“ Liköre, die im üblichen Alltagsgeschäft kaum nachgefragt wurden. Außerdem wurden Musiker und Aushilfskellner engagiert. Falls etwas von den feinen Fest-Getränken übrig blieb, bereicherten sie das alltägliche Angebot.

Die idyllische Lage des Kruges direkt am Haffufer lockte im Sommer auch Gäste von außerhalb an. Übernachtungsmöglichkeiten wurden jedoch nicht angeboten. Aber gelegentlich ließ mein Großvater junge Leute in der Scheune im Heu schlafen, die mit dem Fahrrad oder zu Fuß auf Tour waren.

Außerdem verkauften meine Großeltern im bescheidenen Umfang sogn. Colonialwaren und Naschereien, die auf dem Lande nicht selbst produziert werden konnten. Im Krieg wurde der Verkauf eingestellt, weil meine Großmutter die umständlichen Bezugsscheinformalitäten und Markenzählereien zu aufwändig für den nur nebenbei betriebenen Verkauf fand. Sie mußte sich ab 1942 um die ganze Wirtschaft allein kümmern, bekam "Fremdarbeiter" für die Landwirtschaft zugewiesen und fröhliche Feiern im Krug waren grundsätzlich verboten. Wegen der Behandlung der Fremdarbeiter gab es gelegentlich bedrohliche Auseinandersetzungen mit Parteigernegrößen, denen der familiäre menschlichen Umgang meiner Großmutter mit ihren Arbeitern nicht paßte. Man schaute gelegentlich überraschend vorbei und verprügelte die harmlos am Feierabend beieinander sitzenden Leute. Offenbar war man nicht zufrieden, wenn nicht überall Angst und Schrecken herrschte. Tragisch, daß der Initiator dieser Schlägereien ein Schwager meiner Großmutter war. Der politische Riß ging quer durch die Familie.

In den Kriegsjahren war das Angebot an Likören stark eingeschränkt (nur mit Bezugsschein). Bier und Korn konnte man wohl ohne Beschränkungen ausschenken. Gelegentlich gab es Sonderzuteilungen von Rotwein aus Frankreich.

Im Januar/Februar 1945 flüchtete die Familie des parteitreuen Schwagers aus Lobitten rechtzeitig in den sicheren Westen. Meine Großmutter erhielt aus der Richtung aber keinen Hinweis, keine Warnung, gar nichts, obwohl das ganz einfach per Telefon möglich gewesen wäre. Die Familien SCHWEICHLER aus Stombeck und SEDDIG aus Willkeim erlebten wie viele andere Bewohner die Schreckensjahre von 1945 bis Herbst 1948 im russisch besetzten Ostpreußen.

Auf der Beerdigungsfeier von Onkel Franz in Oldenburg/Holstein (Franz Bojahr 1888 – 1974, verheiratet mit Frieda geb. Schweichler, Schwester meines Großvaters) gab es noch Teilnehmer, die sich scherzend damit rühmten, sie hätten meinen Großvater, den Krüger Kurt Schweichler (1902 - 1999), einstmals auf einem Fest in Stombeck „blankgesoffen“: sämtliche Sektbestände sollen geleert worden sein. Es klang nach einer vergnüglichen, feucht-fröhlichen Erinnerung.

Erinnerungen. Mehr ist nicht geblieben. Stombeck existiert nicht mehr.


Der Krug in Stombeck, in der Mitte stehend Kurt Schweichler. Direkt hinter den am rechten Bildrand sichtbaren Bäumen bzw. hinter dem nördlichen Giebel des Kruggebäudes befindet sich das Haffufer.

Die ca. 10 Wohngebäude am Haffufer in Stombeck wurde in den 1970er Jahren aufgegeben und nach und nach abgetragen. Heute findet man nur noch mit Mühe einige Reste von Grundmauern.

Labels: , , , , , , ,

Samstag, 19. November 2011

Meine schwierigen Fälle: SEDDIG, LORENZ, SPEER

Wenn man meine Beiträge in diesem BLOG liest, könnte der beneidenswerte Eindruck aufkommen, daß ich alle meine Vorfahrenlinien bis tief in die Vergangenheit hinein ganz ohne größere Probleme verfolgen konnte. Das ist mir leider nur in Einzelfällen gelungen.

Meine Startposition war jedoch eine denkbar günstige. Glücklicherweise fand ich in der Familie noch genügend weit zurückreichende Ausgangsdaten, um problemlos in die Kirchenbuchrecherche einsteigen zu können. Ich habe aber auch schon vor Jahrzehnten begonnen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder nachzufragen. Möglicherweise würde ich heutzutage nicht mehr so viel finden können, weil durch Todesfälle und unachtsame Haushaltsauflösungen viele für die meisten heute kaum noch lesbare Unterlagen endgültig dem Papiermüll übergeben wurden.

In den allermeisten Fällen gibt es für Ostpreussen keine Kirchenbuchquellen aus der Zeit nach 1874 bis 1945. Das liegt daran, daß ab Anfang Oktober 1874 in Preußen die Standesämter eingeführt wurden. Ab diesem Tag waren die Kirchen nicht mehr verpflichtet, jährlich Duplikate von sämtlichen Kirchenaufzeichnungen anzufertigen und an staatliche Stellen zu liefern. Die in den Kirchen verbliebenen Kirchenbücher sind in vielen Fällen durch die Kriegsfolgen verloren gegangen. Die an staatliche Stellen gelieferten Duplikate gelangten in Archive, die in Kriegszeiten an sichere Orte ausgelagert wurden und heute für Recherchen zur Verfügung stehen.

Aber nun zu meinen schwierigen Fällen:
Meine Großmutter Charlotte SCHWEICHLER (* 1907 in Willkeim, Kirchspiel Powunden, Samland; verstorben 1970 in Oldenburg/Holstein) trägt den Geburtsnamen SEDDIG. Ich habe sogar noch meinen Urgroßvater August SEDDIG kennen gelernt (*1878 in Willkeim; verstorben 1970 in Oldenburg/Holstein). Leider war ich damals zu jung, um die Fragen zu stellen, die ich heute gern an ihn richten würde. Durch einen glücklichen Fund bei Nachfahren einer Schwester jenes Urgroßvaters kam noch ans Licht, wer dessen Eltern waren.

Der Urur-Großvater sollte August Gottlieb Rudolph SEDDIG heißen und 1845 in Königsberg geboren sein. Lange habe ich die vielen Königsberger Kirchenbücher durchsucht. Zunächst ohne Erfolg, obwohl ich das genaue Datum wußte. Aber es gab zeitweilig bis zu 17 verschiedene Kirchen und Kirchengemeinden mit eigenen Kirchenbüchern. Nicht von allen sind für den fraglichen Zeitraum Unterlagen überliefert. Dann entdeckte ich im Staatsarchiv Berlin die sogn. Königsberger Kirchenbuch-Kartei (abgekürzt KKK). Diese Kartei wurde in der Nazizeit angefertigt, um die Ermittlungen für die Ariernachweise zu erleichtern. Dazu wurden alle Kirchenbucheintragungen in Königsberg von etwa 1800 bis 1874 systematisch auf Karteikarten erfaßt und alphabetisch sortiert. Nun kann man in vielen handlichen Ordnern nachschlagen z.B. Taufen weiblich Buchstabe Ka – Kr, oder Heiraten nach Brautnamen sortiert, Heiraten nach Bräutigamsnamen usw. Auf den Karteikarten findet man alle relevanten Angaben aus dem Kirchenbucheintrag mit dem Vermerk, in welcher Kirchengemeinde man den Originaleintrag finden kann. Ich sah mir also den Ordner Taufen, männlich, Buchstabe Se an. Und da fand ich die gesuchte Geburt.
Es war nur die Mutter vermerkt: Louise SEDDIG. Was heißt das? Ja richtig, es geht um eine uneheliche Geburt. Louise kam nieder mit ihrem Sohn August Gottlieb Rudolph SEDDIG in einem Hebammen-Institut in Königsberg-Altroßgarten am 9. August1845. Das Kirchenbuch enthält jedoch nur sehr dürftige Angaben: keine Herkunft, keine Paten (nur die Institutsleiterin), keine Vermutungen über den Vater, nichts weiter. Der Vorname LOUISE ist nicht wirklich hilfreich, um eine sonst unbekannte Mutter mit anderweitig auftauchenden SEDDIG-Familiendaten zu verknüpfen. Louise hieß damals vielleicht jedes 5. Mädel. Woher stammt Louise SEDDIG ???

Das ist eine seit vielen Jahren unüberwindlich erscheinende Sackgasse. Der in Königsberg geborene Urur-Großvater ließ sich in Willkeim nieder, gut 25 Kilometer nördlich von Königsberg und einen Kilometer vom Ufer des Kurischen Haffs entfernt. Warum? Existierten Familienbeziehungen in die Gegend? Nicht weit entfernt in dem Nachbardorf Schmiedehnen gab es seit vielen Jahrhunderten ein „Nest“ von SEDDIGs. Aber Louise konnte ich bisher nicht in den dort unübersichtlich wuchernden Familienclan einsortieren. Unübersichtlich, weil es nebeneinander über die Jahrhunderte in dem kleinen Dorf immer mehrere Familienzweige mit dem Namen SEDDIG gegeben hat, die für ihre Kinder oft gleichlautende Vornamen wählten und dadurch nur sehr schwer auseinander zu halten bzw. zu sortieren sind.

Aber bleiben wir noch etwas bei den mysteriösen SEDDIGs. 1647 wird in einem amtlichen Dokument Fritz SETTIG aus Schmiedehnen erwähnt, der noch Abgaben schuldig war. Den vorerst ältesten Nachweis fand ich in einer Amtsrechnungen des Amtes Neuhausen. So lautet der Originaltext von 1634:
Schmiedeinen: Dieses Dorff hatt 19 Huben 20 Morgen, davon hat der Krüger 1 Hube zum Kruge, zinnset davon Jährlichenn 12 mk 30ß und 3mk Freygeldt, daß er daß Haußbier schenckenn befreyet.
18 Huben 20 Morgen seind mit 11 Pauern besezet, die Zinßen von ieder Huben 13mk an gelde unnd scharwercken in allem gleich als Wilkeimen.
Merten Leydt, Hanns Nüßke, Jacob Hermann, Benedict Schwibe, Bernhardt Nißke, Mattheus Settich, Matthes Schakeet, Peter Mannien, Hannß Gedierß/Bedierß(?), Michell Lembke, Bötticher Broß/Groß von jeweils 1 Hube 20 Morgen.[in der alten Handschrift kann man ein großes B nicht unterscheiden von einem großen G]

Die SEDDIGs gehörten also seit Jahrhunderten zu den einfachen Bauern in Schmiedehnen. Es könnte gut sein, daß diese Familie zu den Prußischen Ureinwohnern zu zählen ist.

Ähnlich mysteriös wie der unehelich geborene Urur-Großvater August Gottlieb Rudolph SEDDIG bleibt die Herkunft seiner Ehefrau: Caroline Wilhelmine SPEER soll laut Familienquellen am 26.01.1850 in Stantau geboren sein. Stantau gehört zum Kirchspiel Quednau und liegt nur wenige Kilometer nördlich von der Stadt Königsberg. Eine Überprüfung im Kirchenbuch bringt mich nicht wirklich weiter. Ich finde keinen Eintrag, der wirklich paßt. Die Kirchenbuchblätter sind von oben bis unten ohne Leerzeilen ein Eintrag nach dem anderen vollgeschrieben. Man findet zunächst überhaupt keinen Anfang, keinen Einstieg, keinen Familiennamen in dem undurchdringlichen Zeilengemenge. Annähernd passend erscheint mir einzig der folgende Eintrag:

1850, Nr. 14: Wilhelmine Just[ine] Tochter der unverehel. Carol. BUTZKE in Stantau ist geb. d 16. Feb. m. 3 ½ Uhr get. den 24 ejd. Paten: Ferd. Lau, Emma Lau.

Es findet sich in den Jahren um 1850 kein Speer in Stantau, keine passendere Geburt. Hat die ledige Mutter vielleicht erst später geheiratet? Hat der Vater die Kinder nachträglich mit seinem Namen anerkannt? War die Urur-Großmutter auch von unehelicher Geburt?

Irritierend ist auch ein Zufallsfund im Kirchenbuch Schaaken:
18.01.1874 oo Carl LINDEMANN, Instmann im Amt Schaaken, Witwer, 31 Jahre heiratet
Amalie SPEER, 2 Tochter des Instm. Leopold SPEER in Stantau, Jgfr. 21 Jahre

Sollte das eine jüngere Schwester von meiner Urur-Großmutter sein? Aber warum finde ich in dem Kirchenbuch Quednau nichts? Stimmt die Abschrift nicht völlig überein mit dem ursprünglichen Original? Die gräßliche hingeschluderte Handschrift und die kaum lesbare Ordung läßt vermuten, daß der Schreiber kaum Lust verspürte, eine ordentliche Abschrift anzufertigen. Hat man vielleicht einige Einträge oder Seiten beim Abschreiben übersehen?

Den Namen der Urur-Großmutter Caroline Wilhelmine SPEER finde ich im Heiratseintrag der Urur-Großeltern im Kirchenbuch Powunden bestätigt. Ich suche also keine Spukgestalt einer mysteriösen Familiensaga. Sie muß ganz real existiert haben. Es kam jedoch des öfteren vor, daß die gebrauchten Vornamen von dem ursprünglichen Geburtseintrag mit der Zeit abwichen. Aus Helena Dorothea wurde häufig mal eine Eleonora, aus Auguste eine Justine.

Konsequent geht es rätselhaft weiter in diesem Familienzweig: mein Urgroßvater August SEDDIG, Stellmacher und Bauer in Willkeim, ist mit Ernestine LORENZ aus Twergaiten verheiratet. Sie sind 1905 vor den Traualtar getreten – also keine Möglichkeit, darüber noch etwas amtliches zu finden. Denn im Samland sind grundsätzlich keine Standesamtsunterlagen erhalten geblieben, ebenso keine Kirchenbücher nach 1874. Ernestine ist ebenfalls 1878 geboren. Aber vielleicht werden bereits vor 1874 Geschwister von Ernestine getauft. Dummerweise gibt es in dem kleinen Nest Twergaiten bei Powunden gleich 2 Familien mit dem Namen LORENZ. Welche sind nun die richtigen?

Aber zu der Zeit, als ich diese Geschichte klären wollte (im Jahr 2002), glaubte ich noch, einen Trumpf im Ärmel zu haben. Tante Lene lebte noch, die jüngste Schwester meiner Großmutter Charlotte SEDDIG. Sie wollte ich fragen, ob sie sich noch an die Namen ihrer Großeltern erinnere. Ich schrieb einen liebevollen Brief und erklärte mein Anliegen. Ich schrieb auch, ich wolle mich einige Zeit später bei ihr telefonisch melden, um mit ihr die Fragen persönlich zu erörtern, so daß sie sich nicht mit Schreiben bemühen müsse.

Das umständliche Vorspiel hat Gründe. Denn Tante Lene hat nach dem Tod ihres Vaters und ihrer ältesten Schwester (beide starben 1970) den Kontakt mit meinem Familienzweig über Jahrzehnte fast ganz abbrechen lassen. Darüber hinaus zog sie noch von dem bis dahin gemeinsamen Wohnort Oldenburg nach Bad Schwartau zu der mittleren noch lebenden Schwester, was soweit noch verständlich erscheint. Dahinter steckte aber, daß Tante Lene ein schlechtes Gewissen plagte und sie dem Umfeld ihrer verstorbenen ältesten Schwester unter keinen Umständen mehr begegnen wollte. Sie hatte sich das bescheidene Vermögen ihres Vaters allein angeeignet, ohne mit den anderen Geschwistern etwas abzusprechen. Meine Großmutter kämpfte zu der Zeit bereits mit einer Krebserkrankung, mit belastenden Chemo- und Strahlentherapien und starb wenige Monate später. Sie hat jedoch noch ganz bewußt erlebt, wie nach dem Tod ihres Vaters die Manipulationen von Lene ans Licht kamen und empfand es sehr verletzend, so von ihrer Schwester hintergangen worden zu sein. Tante Lenes Trauma war, immer irgendwie zu kurz zu kommen. Sie war die jüngste der Schwestern, der noch nachfolgende Bruder Richard kam bereits 1942 im 2. Weltkrieg als Soldat um. Sie wurde im Krieg mit einem Gutsbesitzer verlobt, mit August Behrendt aus Althof im Kreis Preußisch Eylau. Lene wollte aber nicht im Krieg heiraten, August überlebte den Krieg nicht, Lene blieb ein unversorgtes Fräulein, schlug sich mit Aushilfsjobs als Verkäuferin bis zur Rente durch und kümmerte sich um ihren Vater bis zu dessen Tode. Warum hat sie nicht ganz einfach gefragt, ob ihre Schwestern ihr die Erbteile überlassen wollten? Ich kann mir nicht vorstellen, daß meine Großmutter sich diesem berechtigten Anliegen hätte verschließen mögen.

Wie ging nun mein Kontaktaufnahmeversuch mit meiner Großtante aus? Ich mache es kurz: sie behauptete, sich nicht erinnern zu können. Ich testete im Gespräch ihr Erinnerungsvermögen mit Fragen zu belangloseren Sachverhalten, Ereignissen, die wir in meiner Kindheit gemeinsam erlebt hatten. Tante Lene hatte keine Probleme mit der Erinnerung, keine Alterssenilität. Aber sie wurde sehr wortkarg, die Unterhaltung geriet peinlich ins Stocken, wenn ich nach älteren Familienzusammenhängen fragte. Das erinnerte mich an einen früheren Versuch in den 1980er Jahren, als ich meine Eltern zu einem Familienfest nach Bad Schwartau begleitete. Ich nutzte damals den Anlass, um vorsichtig mit Tante Lene und ihrer Schwester Tante Grete ins Gespräch zu kommen. Sowie ich nach den üblichen Artigkeiten „zur Sache“ kam und nach Familienzusammenhängen fragte, wurden die Gesichter verkniffener und die beiden alten Damen wanden sich wie in Verlegenheit. Damals meinte man zu mir, daß sei alles so lange her, man habe Mühe sich zu erinnern und ich möge Verständnis haben und nicht an alten Geschichten rühren. Bald nach diesem ersten Versuch kursierten merkwürdige Gerüchte über mich in diesem Teil der Verwandtschaft: ich hätte ganz perfide versucht an Informationen zu kommen, wo ich noch jemanden beerben könnte. Tante Lene verstarb im Jahre 2003 und behielt ihre Familienkenntnisse auf ewig für sich. Tante Grete starb schon 1996. Mehr Tanten gab es nicht aus diesem Familienzweig.

Zusammenfassung: Recherchen in der Familie können an alten Geschichten rühren, die einen konstruktiven Umgang miteinander behindern und die Übermittlung von Informationen stören. Selbst allergrößtes Bemühen um ein taktvolles und einfühlsames Vorgehen hilft manchmal nicht wirklich weiter. Mir ist bewußt, daß alle Familiemitglieder mehr oder weniger stark traumatisiert wurden durch die Ereignisse in Ostpreußen im Jahr 1945 und den nachfolgenden Jahren. Meine Mutter und ihre Familie kam erst im Herbst 1948 nach über 3 Jahren Zwangsarbeit, fürchterlichen Mißhandlungen und langen Perioden von entsetzlichem Hunger aus „Russisch-Ostpreußen“ heraus. Man konnte es kaum fassen, wie man trotz der permanten Lebensgefährdungen doch noch irgendwie überlebte, wo doch so viele Nachbarn, Verwandte und Freunde elendig umkamen. Ich weiß, daß es sehr heikel ist, das Gespräch in eine Vergangenheit lenken zu wollen, die durch solch eine Horrorerinnerung blockiert sein kann. Meine vielfältigen Erfahrungen damit haben mir gezeigt, daß jene belasteten Gesprächspartner immer gern auf Fragen eingingen, die in eine noch unbelastete Zeit zurückreichen, vielleicht eine glückliche Kindheit berühren, angenehme Erinnerungen anregen. Eine konsequente Verweigerung habe ich nur bei Tante Lene erlebt. Hat sie möglicherweise von der unehelichen Geburt ihrer Großeltern väterlicherseits gewußt? Hätte sie so etwas als Makel empfunden ? Denkbar wäre es.

Zur besseren Übersicht der geschilderten Zusammenhänge:

1. Seddig, Louise, keine weiteren Angaben bekannt, * ca. 1815-20
1 Kind von Nr. 1
2. Seddig, August Gottlieb Rudolf, ev., * Königsberg 09.08.1845,
   + Willkeim, Ostpreussen 03.02.1930
   unehel. Geburt in Hebammen-Institut, Königsberg- Altroßgarten
   oo Powunden, Ostpreussen 27.09.1874 Karoline Wilhelmine Speer, * Stantau 26.01.1850, + Willkeim, Ostpreussen 1939

5 Kinder von Nr. 2
3. Seddig, Johanna Wilhelmine Amalie, * Willkeim, Ostpreussen 15.08.1875,
   + Königsberg, Ostpreussen 24.09.1931;   oo N.N. Klein, in Königsberg
4. Seddig, August, Stellmacher, Bauer, * Willkeim 13.01.1878, + Oldenburg/Holstein 19.05.1970
August ging bei seinem zukünftigen Schwager (Lorenz in Twergaiten) in die Lehre (Stellmacherei)
oo 01.01.1905 Ernestine Lorenz, * Twergaiten 26.03.1878, + Oldenburg/Holstein 18.12.1960
5. Seddig, Amalie; verehelichte Heller, in Königsberg
6. Seddig, Auguste; verehelichte Lange, in Königsberg
7. Seddig, Marie Henriette, * Plöstwehnen 22.08.1880, oo Berlin-Rixdorf 26.06.1909 mit Stephan Kuchta, Gärtner in Berlin (* Königsberg 1880, + Berlin 1952)

1 Kind von Nr. 3
8. Klein, Walter, bei der Feuerwehr in Königsberg

4 Kinder von Nr. 4
9. Seddig, Charlotte, * Willkeim 04.09.1907, + Oldenburg/Holstein 01.09.1970
    oo Powunden, Samland, Ostpreussen 07.07.1930 Kurt Schweichler, Landwirt, Gastwirt,
    * Stombeck 09.02.1902, + Oldenburg/Holstein 14.11.1999
10. Seddig, Grete, * Willkeim, Ostpreussen 26.02.1910, + Bad Schwartau 02.1996
oo 1934 Otto Hoffmann, Amtsvorsteher, * Lobitten 1900
11. Seddig, Helene, Verkäuferin, * Willkeim, Ostpreussen 05.09.1913, + Bad Schwartau 10.11.2003
12. Seddig, Richard, * Willkeim, Ostpreussen 19.05.1917, + Kursk 07.1942

3 Kinder von Nr. 9
13. Schweichler, Betty, ev., * Stombeck 13.01.1932
      oo Oldenburg/Holstein 12.04.1958 Werner Ludwig Haupt, Landwirt,
      * Rossen, Kr. Heiligenbeil, Ostpreussen 06.02.1929, + Oldenburg/Holstein 21.04.2008
14. Schweichler, Bruno, * Stombeck 27.06.1934, + Schaaken, Ostpreussen 08.08.1947
15. Schweichler, Dieter, * Stombeck 21.06.1939, + Oldenburg/Holstein 04.02.2019


Charlotte SCHWEICHLER, geb. SEDDIG,  1930er Jahre  in Stombeck
Helene SEDDIG, (Tante Lene)

Charlotte SCHWEICHLER, geb. SEDDIG






Ernestine u. August SEDDIG, Goldene Hochzeit 1955 in Thüringen

Lene Seddig, Betty Haupt, Charlotte Schweichler 1963
Wie immer freue ich mich über Fragen, Nachrichten und Kommentare zu allen hier vorgestellten Familiennamen und Sachverhalten.





























Labels: , , ,

Mittwoch, 16. November 2011

"Komasaufen" in Kaimen

Eintrag des Pfarrers zu Caymen im Kirchenbuch 1737:
>> Hat sich der betrübte und entsetzliche Casus alhier zugetragen, daß der Cöllmische Krüger von Wilditten Georg Duhm einziger Sohn [Gabriel DUHM, *16.07.1703, + 16.12.1737], da er nebst anderen Freyen Söhnen in der Mühle zu Caymen gewesen und leider die Nacht über mit Sauffen zugebracht, auch über das noch des Morgens ein gut Theil Brandwein zu sich genommen, so daß er darauf am Tisch entschlafen geworden und alß schlafend ins Bett getragen werden müßen, bald darauf, da man ihn hat aufwecken wollen, gantz todt gefunden hat, so daß man nicht wißen kann, was eigentlich die Ursach seines Todes gewesen.<< (Kaimen ist die neuzeitliche Schreibweise, Caymen die traditionelle alte Variante. Der Ort liegt im östlichen Samland, auf dem Weg von Königsberg nach Labiau.)

Dieses betrübliche Ereignis führt dazu, daß das Duhmsche Gut in Wilditten (4 Hufen = 65 Hektar mit eigener Krug/Braugerechtigkeit) nicht mehr in der Familie gehalten werden kann und mit dem Tod des Georg DUHM 1743 an dessen Schwiegersohn Siegmund BEHREND übergeht.

Die Mühle in Caymen gehört 1737 Christoph FRÖHLICH. Die Mühle in Bothenen gehört seinem Bruder Christian FRÖHLICH und der ist mit Anna Maria DUHM, der ältesten Schwester des oben beklagten Todesopfers verheiratet. Man trifft sich zu diesem Saufgelage in der Mühle wahrscheinlich im weiteren Familienkreis: „da er nebst anderen Freyen Söhnen in der Mühle zu Caymen gewesen ...“ ist hier so zu lesen, daß Gabriel DUHM mit seinen Standesgenossen getrunken hat, also mit Söhnen von anderen Freyen, die aber höchstwahrscheinlich alle weitläufig untereinander verwandt sind, weil man über Jahrhunderte strikt nur innerhalb des eigenen Standes heiratet. Die Getränke für diese durchzechte Nacht kommen vielleicht aus dem Elternhause des Verstorbenen, dem Kruggut in Wilditten. Im Jahre 1737 fällt der 15. Dezember auf den 3. Adventssonntag. Die durchzechte Nacht endet am Montagmorgen mit der schrecklichen Entdeckung, daß einer der Beteiligten nicht mehr erwacht.

Die Familienkonstellation gibt zu Spekulationen Anlaß: warum ist der einzig noch lebende Sohn und Erbe des einträglichen Krugguts in Wilditten mit 34 Jahren noch nicht verheiratet? Ist dieses unglückliche Ereignis eine traurige Ausnahme und ein Unglücksfall oder ist Gabriel DUHM, verführt durch das ständige häusliche Angebot, ein Gewohnheitstrinker, der in jener Nacht das verträgliche Maß überschritten hat? Läßt ein dominanter Vater die Eigenentwicklung des Sohnes nicht zu, der sich deswegen in den Trunk flüchtet und keine Heiratsabsichten verwirklichen kann, während seine beiden Schwestern schon lange „unter die Haube“ gebracht sind? Gilt es vielleicht schon als ausgemacht, daß er den Hof nicht erbt, sondern der möglicherweise fähigere Mann seiner jüngsten Schwester (Heirat 1734)? War der Todesfall vielleicht kein Unfall, sondern eine Art Selbstmord aus Verzweiflung und mangelnder Lebensperspektive? Was waren die Gründe für dieses Familiendrama?

Ein Frey ist im damaligen Sprachgebrauch ein Grundbesitzer, der aufgrund seiner ökonomischen Unabhängigkeit und der mit dem Besitz verbundenen Privilegien niemandes anderen Untertan, also „frei“ ist. Sie unterscheiden sich vom Adel dadurch, daß mit ihrem Besitz kein Patronatsrecht und keine eigene Gerichtsbarkeit verbunden ist. Nur selten übersteigt die Besitzgröße von sogn. cöllmischen Freygütern die 100-Hektar-Grenze, während adelige Güter oft wesentlich größer waren. 3 bis 4 Hufen, also 50 – 65 Hektar, ist eine häufig anzutreffende Standardgröße für cöllmische Höfe, von der man offenbar ganz gut leben kann.

In Wilditten gibt es bis in die Neuzeit nur 2 Höfe mit jeweils 4 Hufen, die sich sonst nur durch die seit alten Zeiten privilegierte Krug/Braugerechtigkeit des einen Hofes voneinander unterscheiden.

Die Besitzerfolgen auf dem Duhmschen Gut, soweit bisher bekannt :
(die Jahreszahlen beziehen sich auf die Lebensdaten der Besitzer)
1.Gabriel DUHM, um 1650 
2.Georg DUHM, 1674 – 1743 (Sohn des Gabriel) 

3.Siegmund BEHREND, 1707 - 1752 (Schwiegersohn)

4.interimistisch Johann Reinhold KADGIEHN ab 1753 als 2. Ehemann der Catharina Barbara DUHM

5.Johann Christoph BEHREND, 1743 -1785 (Sohn des Siegmund, hat keine Söhne, nur Töchter) 

6.Daniel Siegmund HENNIG, 1766 - 1821(Schwiegersohn) 
7.Johann Christoph HENNIG, 1806 – 1876 (Sohn des Daniel Siegmund) 
8.Heinrich August HENNIG, 1843 – 1893 (die Witwe verkauft den Hof 1893 an einen Verwandten)

Die Besitzerfolge auf dem Nachbarhof in Wilditten:
1.Merten vom Berge 1528 (Quelle: Erneuerung der Besitzverschreibung 1528)
- Generationenfolge zwischenzeitlich unklar -
2.Albrecht von Bergen (v. Berg, v.Berge) vor 1600 
3.Albrecht von Bergen um 1600
4.Albrecht von Bergen gestorben um 1660-65 (Sohn, Vater u. Großvater gleichen Namens werden in einem amtlichen Dokument erwähnt) 
5.Johann THIEL, gestorben zwischen 1696-99 (Schwiegersohn des Albrecht v.Bergen) 
6.interimistisch Johann SANTRAU als 2. Ehemann der Catharina Agnes v.Bergen bis 1732 
7.Friedrich Siegmund THIEL, 1693 – 1780 (Sohn des Johann THIEL)  Friedrich Siegmund THIEL hat 4 Söhne. Es ist zeitweise nicht ganz klar, wer von ihnen die Nachfolge übernommen hat. Möglich erscheinen : 
8.Carl Gottlieb THIEL 1745 – 1808  
9.(und/mit Daniel Reinhold THIEL * 1751- ?, er taucht aber nach dem Tod seiner Ehefrau Helena Dorothea PETERSON 1767-1800 nicht mehr im Kirchspiel Caymen auf
10.Carl Gottlieb THIEL *1778, Sohn von Carl Gottlieb THIEL sen.
Von Carl Gottlieb Thiel jun. sind nur noch 2 Töchter *1810 und *1813 bekannt. Mehr ließ sich noch nicht im KB Caymen finden. Der Fortgang der Besitzerfolge ist noch unklar.

Zur Ortschaft Wilditten siehe auch den Aufsatz über die Familie v.Bergen.

Wie immer freue ich mich über Nachfragen und Kommentare zu allen hier genannten Familien und Sachverhalten.

Labels: , , , , , , , , , , , ,